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Peter JAENECKE
WOZU WISSENSORGANISATION?
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Kommunikationstheoretische Grundbegriffe
- Wissensmisere
- Rekursive Mechanismen bei der Wissensgewinnung
- Wissensorganisation
- Res�mee
Zusammenfassung:
Der vorliegende Diskussionsbeitrag dient der
Standortbestimmung von Wissensorganisation. Zun�chst werden einige
kommunikationstheoretische Grundbegriffe pr�zisiert. Die neuen Begriffe erlauben die
Feststellung, da� gegenw�rtig keine Informations-, sondern eine Nachrichtenflut
herrscht, und da� es unzul�ssig ist, letztere undifferenziert mit einer Wissensflut
gleichzusetzen. Nachrichten m�ssen nach ihrem Gehalt beurteilt werden. Zu diesem Zweck
wird Wissen in Kern-, Rand- und Pseudowissen unterteilt; es wird die Vermutung ge�u�ert,
da� der weitaus �berwiegende Teil der wissenschaftlichen Ver�ffentlichungen Rand- und
Pseudowissen betrifft. Anhand von zwei ineinandergreifenden und sich selbst verst�rkenden
rekursiven Mechanismen wird gezeigt, wie Pseudowissen vor allem au�erhalb der
mathematisch-naturwissenschaftlichen F�cher immer mehr um sich greift, also gerade in
jenen F�chern, die sich im weitesten Sinn mit gesellschaftlichen Problemen befassen. So
kommt es zu einem Defizit an Handlungswissen und zu einer allgemeinen
Orientierungslosigkeit - einer modernen Form von Unwissenheit, die sich gegenw�rtig in
aller Sch�rfe als F�hrungskrise �u�ert. Die sich hieraus f�r die Wissensorganisation
ergebenden Forschungsaufgaben werden in groben Z�gen skizziert. Wozu Wissensorganisation?
Worin sollte die Aufgabe der Gesellschaft f�r Wissensorganisation bestehen? - Angesichts
der gesellschaftlichen Bedeutung liegen folgende Antworten nahe: Globales Ziel der
Wissensorganisation sollte es sein, der modernen Form von Unwissenheit entgegenzuwirken.
Hierzu bedarf es der Zusammenarbeit zahlreicher Disziplinen, die nur dann erfolgreich sein
kann, wenn die Aktivit�ten der einzelnen Disziplinen zweckm��ig miteinander koordiniert
werden; dies sollte Aufgabe der Gesellschaft f�r Wissensorganisation sein.
Es ist nichts als die T�tigkeit nach einem bestimmten
Ziel, was das Leben ertr�glich macht.
F. SCHILLER an Chr. G. K�RNER, 27.4. 1801
1. Einleitung
Was ist Wissensorganisation? lautete urspr�nglich der
Titel meines Vortrags. Ich hielt eine Kl�rung dieser Frage f�r dringend geboten, besteht
doch unsere Gesellschaft f�r Wissensorganisation schon seit mehreren Jahren, und doch
gehen die Meinungen dar�ber, was 'Wissensorganisation' sei, noch ziemlich weit
auseinander. Mir war es nicht um eine Definition zu tun, denn ich bezweifle, da� sich
eine brauchbare finden l��t; auch andere F�cher kommen ohne sie aus, warum sollte
gerade die Wissensorganisation eine Ausnahme machen? Es gibt im Lexikonstil gehaltene
Formulierungen wie "Die Physik ist die Wissenschaft von den Bewegungsformen und den
sie erzeugenden Kr�ften der Materie und ihren Eigenschaften", 1) die zwar eine grobe
Einordnung des fraglichen Faches erlauben, aber als Definition, aus der sich Folgerungen
ableiten lassen, nicht taugen. Ich wollte wissen, welche Gebiete zur Wissensorganisation
geh�ren und in welcher Beziehungen sie zueinander stehen, in der Hoffnung, dadurch in
Erfahrung zu bringen, was die ziemlich heterogenen Richtungen miteinander verbindet. Ich
bin jedoch �ber wenige Blockdiagramme nicht hinausgekommen. Es stellte sich n�mlich sehr
schnell heraus, da� mir eine regulative Idee fehlte: Um die zur Wissensorganisation
geh�renden Gebiete benennen zu k�nnen, mu� man das mit der Wissensorganisation
verfolgte Ziel kennen. So habe ich die Frage 'Was ist Wissensorganisation?'
zur�ckgestellt und versucht, zun�chst eine Antwort auf die Frage 'Wozu
Wissensorganisation?' zu finden.
1 ABC der Naturwissenschaft und Technik. Brockhaus (1956): Leipzig.
Die bisherigen Zielgebungsversuche geben hierauf keine
Antwort; sie betonen zu einseitig die Verbesserung der Methoden. Doch Methoden sind
Werkzeuge; es kann nicht das Ziel einer Disziplin sein, unabl�ssig ihre Werkzeuge zu
perfektionieren, so als w�rde man von der Physik sagen, ihr Ziel sei es, immer genauere
Me�ger�te zu bauen. Wir brauchen eine inhaltliche Bestimmung, die es uns erlaubt, auf
Sinnfragen zu antworten: Wozu sind z.B. bessere Klassifikationsmethoden erforderlich?
Welches Problem soll damit gel�st werden?
Etwa zur gleichen Zeit, als ich anfing, mir Gedanken �ber
den Zweck von Wissensorganisation zu machen, stie� ich auf eine Studie �ber den Verfall
der politischen Parteien. 1) Die Autoren machen f�r den Niedergang des Parteiensystems
vor allem den mangelhaften Sachverstand der F�hrungskr�fte verantwortlich: Das
Mittelsma� ist tonangebend; f�r eine politische Karriere ist Sachkompetenz eher
hinderlich als f�rderlich, gefragt sind Anpassung an den Zeitgeist und medienwirksames
Auftreten. In dieses Bild pa�t, da� Politiker die Besch�ftigung mit Aufgaben, die �ber
den Tag hinausweisen, also gerade jene T�tigkeiten, mit denen sie ihre
F�hrungsqualit�ten unter Beweis stellen k�nnten, f�r nachrangig halten und erkl�rt
ihre Hilflosigkeit gegen�ber vielen lebensbedrohenden Problemen unserer Zeit.
Einmal aufmerksam geworden, beachtete ich in der Folgezeit
etwas sorgsamer die in den Medien berichteten Pannen und Skandale. Ich mu�te sehr schnell
erkennen, da� das Ph�nomen 'Inkompetenz' nicht nur im F�hrungsstab der politischen
Szene, sondern auch bei leitenden Personen im Wissenschafts- und Kunstbetrieb sowie im
Management von Firmen, Gewerkschaften, Kirchen und Sportverb�nden verbreitet ist. Neuere
Ver�ffentlichungen best�rken den Eindruck einer �ber Institutionen und L�ndergrenzen
hinwegreichenden eklatanten F�hrungskrise. 2)
Solch ein umfassendes Inkompetenzph�nomen l��t sich
nicht mit Fehlleistungen einzelner Personen erkl�ren, sondern mu� einen sehr allgemeinen
Grund haben. Inkompetent ist, wer seine Aufgaben nicht erf�llen kann, weil er �ber die
erforderlichen Ma�nahmen nicht gen�gend Bescheid wei�. Im Mangel an Handlungswissen
liegt offenbar der Schl�ssel zum Verst�ndnis der Krise. Wodurch ist nun aber das
Wissensdefizit bedingt? Die Antwort hierauf ist zugleich die zentrale These der
vorliegenden Arbeit:
Das Wissensdefizit entsteht, weil der Wissensbestand
in Unordnung geraten ist, so da� es immer schwerer f�llt, sich sachkundig zu machen.
1 SCHEUCH, E.K. & SCHEUCH, U.: Cliquen, Kl�ngel und Karrieren.
�ber den Verfall der politischen Parteien - eine Studie. Reinbek bei Hamburg (1992):
Rowohlt Taschenbuch Verlag.
2 z.B. OGGER, G.: Nieten in Nadelstreifen. Deutschlands Manager im
Zwielicht. M�nchen (1992): Droemer Knauer.; DREWERMANN, E. (1992): Worum es eigentlich
geht. Protokoll einer Verurteilung. M�nchen (1992): K�sel-Verlag; VON ARNIM, H.H.: Staat
ohne Diener. Was schert die Politiker das Wohl des Volkes? M�nchen (1993): Kindler
Verlag. In den Zeitungen sind t�glich neue Beispiele zu finden.
Solch ein in Unordnung geratener Wissensbestand ist ein
unertr�glicher und in unserer hochtechnisierten Welt �u�erst gef�hrlicher Zustand, dem
dringend abgeholfen werden mu�. Damit bin ich wieder bei meiner Frage: Wozu
Wissensorganisation? Es ist naheliegend zu antworten: Wissen ordnen, Wissen zug�nglich
machen. Diese Antwort m�chte ich nun etwas n�her erl�utern, dabei gilt es folgende
Fragen zu beantworten: Was hei�t es, der Wissensbestand sei in Unordnung geraten? Welche
Mechanismen verursachen die Unordnung und wie wirken sie sich aus? Warum haben die
bisherigen L�sungsvorschl�ge so wenig ausgerichtet? Welche Aufgaben fallen der
Wissensorganisation bei der Suche nach einer L�sung zu?
2. Kommunikationstheoretische Grundbegriffe
Wie kaum ein anderes Fach leidet die Kommunikationstheorie
unter der Vieldeutigkeit ihrer Grundbegriffe. Es sind vor allem die Begriffe 'Nachricht'
und 'Information' sowie die aus ihnen abgeleiteten Begriffe, die immer wieder Verwirrung
stiften. Um Mi�verst�ndnissen vorzubeugen, legen wir fest:
Eine Nachricht ist eine Folge von r�umlich
nacheinander auf einem Medium angeordneten Zeichen. Ein Ma� f�r die Information einer
Nachricht ist der Umfang an Zustands�nderungen, die sie bei einem Empf�nger ausl�st.1
Wir unterscheiden hier zwischen der Nachricht und dem
Medium, auf dem sie aufbewahrt ist, obwohl beides untrennbar zusammengeh�rt: es gibt
keine nackten Nachrichten, sondern nur Objekte, die eine Nachricht enthalten, z.B.
B�cher, Lochstreifen, Disketten usw.; sie werden oft unter dem Oberbegriff 'Dokument'
zusammengefa�t. 2) Eine Nachricht stellt, als eine Folge von Zeichen, eine Entit�t dar,
die unabh�ngig von einem Empf�nger existiert; Information dagegen ist stets auf einen
Empf�nger bezogen. Ein und dieselbe Nachricht kann f�r verschiedene Empf�nger, aber
auch f�r den gleichen Empf�nger zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich informativ sein,
denn welche Information eine Nachricht f�r einen Empf�nger mit sich bringt, h�ngt von
dessen Wissen und dessen Vorgeschichte ab. Erf�hrt z.B. jemand eine Nachricht ein zweites
Mal, so hat sie f�r ihn, obwohl es sich noch um die gleiche Zeichenfolge handelt, eine
andere Information als beim ersten Mal: Sie kann gr��er sein, weil die Nachricht f�r
ihn jetzt verst�ndlicher wurde, sie kann aber sehr nahe bei Null liegen (wie etwa bei
einem Witz, den man zum zweiten Mal h�rt). Auch offenkundiger Unsinn kann Information
enthalten, denn es kommt auf die im Empf�nger ausgel�sten Zustands�nderungen, nicht auf
die Wahrheit an.
1 STEINBUCH, K.: Ma�los informiert. Die Enteignung des Denkens. Herbig
Verlagsbuchhandlung M�nchen/Berlin 1978, 52, 55; dieser Informationsbegriff wurde
k�rzlich wieder aufgegriffen von ROTH, G. (1987): Erkenntnis und Realit�t: Das reale
Gehirn und seine Wirklichkeit; in: S.J. SCHMIDT (Hrsg.): Der Diskurs des Radikalen
Konstruktivismus. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag, 360.
2 Auch ein aufgezeichnetes Signal, z.B. die Tonbandaufzeichnung einer
Rede, stellt ein Dokument dar. Auf den Unterschied zwischen Signal und Nachricht gehen wir
hier nicht ein.
Auf ihrem Weg vom Kopf des Senders zum Kopf des Empf�ngers
erf�hrt eine Nachricht eine mehrfache Umwandlung. Soll solch eine �bertragung ihren
Zweck erf�llen, mu� es etwas geben, das bei allen Umwandlungen invariant bleibt; wir
bezeichnen es als 'Gehalt einer Nachricht':
Der Gehalt einer Nachricht ist die Menge aller
m�glichen Informationen, die aus ihr gewonnen werden k�nnen.
Im Gegensatz zur Information ist der Gehalt einer Nachricht
etwas Empf�ngerunabh�ngiges. Einer verworrenen Nachricht entnimmt jeder etwas anderes,
und die Menge aller m�glichen Informationen umfa�t hier besonders viele Elemente. Eine
exakte Nachricht hat die Eigenschaft, da� sich alle Empf�nger, die sie verstanden haben,
in etwa hinsichtlich des �bermittelten im gleichen Zustand befinden; sie haben also alle
die gleiche Information gewonnen, d.h. die Menge aller m�glichen Informationen besteht
eben nur aus jenem einen Element. In diesem Sonderfall fallen, wenn die Nachricht f�r den
Empf�nger neu ist, Gehalt und Information zusammen. Zwischen 'Nachricht' und 'Nahrung'
besteht eine gewisse Analogie; der Gehalt einer Nachricht entspr�che danach dem N�hrwert
einer Nahrung und die Information dem, was ein Organismus einer Nahrung entnimmt.
'Information' in Verbindung mit 'Flut' zu gebrauchen,
verbietet sich nach unseren Definitionen von selbst: Nicht mit Informationen, sondern mit
Nachrichten werden wir �berflutet, und die korrekte Fassung der vielzitierten
Kommunikationskrise lautet: In den Wissenschaften w�chst die Zahl der Nachrichten
exponentiell. Ob sich allerdings hinter der hohen Steigerungsrate bei der
Nachrichtenproduktion auch eine ebensolche des Wissensstoffes verbirgt, ist damit noch
nicht ausgesagt. Hierzu bedarf es zun�chst einer Kl�rung des ziemlich verworrenen
Wissensbegriffs. 1)
Wissen stellen wir mit dem Gehalt einer Nachricht auf eine
Stufe, allerdings ist nicht jeder Gehalt zugleich auch Wissen:
Eine Nachricht enth�lt Wissen (stellt Wissen dar),
wenn ihr Gehalt in allgemeing�ltigen Aussagen �ber die Welt besteht.
'Welt' umfa�t die Natur im weitesten Sinn, aber auch die
vom Menschen geschaffenen Dinge; die Allgemeing�ltigkeit betrifft im Idealfall vier
verschiedene Ebenen: Es mu� sich (1) um allgemeine Aussagen �ber eine Menge von Dingen
handeln, nicht um Aussagen, die sich nur auf Einzeldinge beziehen. Es m�ssen (2) zeitlose
Aussagen sein, die ihre G�ltigkeit nicht nach einer gewissen Zeit verlieren. Sie m�ssen
(3) rationale Entscheidungen erm�glichen, die f�r die Allgemeinheit und nicht nur f�r
einen speziellen Personenkreis von Interesse sind, und sie m�ssen (4) exakt sein, damit
aus ihnen im Prinzip jeder Mensch die gleiche Information gewinnen kann.
1 Es wirkt oft recht hilflos, was �ber den Wissensbegriff geschrieben
wird; s. z.B. MITTELSTRASS. J.: Computer und die Zukunft des Denkens. Information
Philosophie M�rz 1991, 6; ZEMANEK, H.: Weltmacht Computer. Weltreich der Information.
Esslingen/M�nchen (1991): Bechtle Verlag, 159-163.
3. Wissensmisere
Nicht jede Nachricht, von der behauptet wird, sie stelle
Wissen dar, erf�llt die obigen Bedingungen. Um die Nachrichten besser einordnen zu
k�nnen, unterteilen wir sie nach ihrem Gehalt in Kern-, Rand- und Pseudowissen.
3.1 Kern-, Rand- und Pseudowissen
In der Mathematik und in den Naturwissenschaften, speziell
in der Physik, wurde nahezu das gesamte Wissen in Theorien abgelegt, die als gesichert
gelten. Zwar ist nie auszuschlie�en, da� in Zukunft noch einige Erg�nzungen
hinzukommen, aber das, was heute schon bekannt ist, wird auch in Zukunft noch Bestand
haben: Auch in 100 Jahren wird das Periodensystem der Elemente oder die Elektrodynamik
nicht wesentlich anders aussehen als heute, insbesondere werden sie nicht wesentlich an
Umfang zunehmen. Wissen dieser Art erf�llt die obigen vier Bedingungen; wir bezeichnen es
als Kernwissen. Es ist der eigentliche kulturinvariante Wissensschatz der
Menschheit.
Dar�ber hinaus gibt es in allen Wissenschaften einen
Forschungsbereich, in dem die Ergebnisse nicht bzw. noch nicht abgesichert sind. Hier wird
zwar auch Wissen erzeugt, aber es ist noch alles im Flu�: Es kann sich um eine Erg�nzung
bestehenden Wissens oder um revidierte Irrt�mer handeln; manchmal ist es auch blo� ein
neuer Irrtum. Wir bezeichnen solches Wissen, dessen Reiz vornehmlich in der Neuheit
besteht, als Randwissen. Kritiken, kontroverse Diskussionen, aber auch
Forschungsberichte und akademische Pflichtarbeiten sind hierf�r typische Beispiele.
Randwissen verletzt die obigen Bedingungen (2) - (4): Sein Wahrheitswert ist i.a.
entscheidbar, aber es ist von geringer Allgemeinheit und kann schnell veralten oder in
Kernwissen aufgehen. Doch trotz seiner Kurzlebigkeit kann es zu seiner Zeit wichtige
Dienste geleistet haben; es sind aber Hilfsdienste gewesen, die vergessen werden, sobald
ihre Aufgabe erf�llt ist. Randwissen ist nur f�r einen bestimmten Personenkreis,
n�mlich f�r die auf dem betreffenden Gebiet arbeitenden Wissenschaftler gedacht und hat
daher meist nur eine wissenschaftsinterne Bedeutung. Randwissen l��t sich mit einem
Ger�st vergleichen, das um ein Geb�ude, dem Kernwissen, errichtet wurde, um es
auszubessern bzw. fortzubauen.
In den letzten Jahren h�ufen sich in bedenklicher Weise
zunehmend Arbeiten, die sich durch "moderne" Themen und durch selbstbewu�t und
mit Anspruch auf Wissenschaftlichkeit vorgetragene Aussagen auszeichnen. Doch was in
diesen Arbeiten ausgesagt wird, ist Pseudowissen. Es verletzt ebenfalls die obigen
Bedingungen (2) - (4), ist aber weder wahr noch ganz falsch, denn es werden Ideen
miteinander verkn�pft, die zwar einen wahren Kern haben, aber nicht zusammengeh�ren. Im
Gegensatz zum Randwissen, das am Kernwissen festen Halt findet, ist Pseudowissen aus sich
selbst heraus konstruiert. Pseudowissen gleicht einem Ger�st, das um ein Ger�st,
manchmal auch nur ins Leere gebaut wurde. Da es nicht immer einfach ist, die
Unvereinbarkeit von Ideen zu erkennen, ist es auch nicht leicht, sicher zwischen Rand- und
Pseudowissen zu unterscheiden, insbesondere in Disziplinen mit nur wenig ausgepr�gtem
Kernwissen. Am h�ufigsten st��t man auf Pseudowissen, wenn eine Disziplin die
Ergebnisse einer anderen zu adaptieren versucht.
Pseudowissen offenbart sich an einigen untr�glichen
Merkmalen: Verschwommenene Vorstellungen oder Unsicherheiten auf fachfremden Gebiet
f�hren zu einer dunklen Ausdrucksweise, letzteres geht h�ufig mit einem unzul�ssigen
Gebrauch von fachfremden Begriffen einher. Hinzu kommen sachliche und methodische
Defizite, die stets ein Zeichen daf�r sind, da� der betreffende Sachverhalt nicht
richtig verstanden wurde. Weitere Merkmale sind die Simplifizierung von Problemen,
und, eng mit ihr verwandt, unzul�ssige Verallgemeinerungen. Mehrdeutigkeiten
lassen sich i.a. durch den Kontext aufl�sen; bei Texten, die Pseudowissen enthalten, ist
dies nicht mehr m�glich; hier ist der Kontext selbst mehrdeutig bzw. unverst�ndlich.
Pseudowissen darf nicht mit den in vielen
wissenschaftlichen Publikationen zu findenden Sprachfassaden verwechselt werden. Letzteres
sind S�tze und Setzungen von unnachahmlicher Trivialit�t, welchen durch eine
aufgeblasene Terminologie der Anschein von Wissenschaftlichkeit gegeben wird. 1) Derartige
Entgleisungen wurden schon von VALENTIN verspottet; 2) sie sind i.a. harmlos, weil sie als
Dummheiten erkannt und blo�gestellt werden. Im Gegensatz zum Pseudowissen lassen sich
Sprachfassaden in sinnvolle Aussagen umformulieren, allerdings sind auch hier die Grenzen
flie�end.
Ein aufmerksamer Leser wird keine M�he haben, in der
zeitgen�ssischen Literatur reiche Beute an Pseudowissen zu machen. Wir begn�gen uns hier
zur Veranschaulichung mit dem folgenden Beispiel, in dem mindestens drei Merkmale von
Pseudowissen zu erkennen sind:
Unter Umst�nden kann der Best�tigungsgrad einer Hypothese
um so mehr sinken, "je mehr daf�r empirische Belege beigebracht werden. Aus dieser
Situation kann nun die evolution�re Erkenntnistheorie einen Ausweg bieten, indem sie die
geforderte Rationalit�t der Apriori-Wahrscheinlichkeit in einem phylogenetischen
Aposteriori verwurzelt sieht. Das grundlegende Prinzip dieser Rationalit�t ist bereits
auf der genetisch bedingten Ebene der angeborenen Erwartungswahrscheinlichkeitsmetrik
festgelegt."
Dieser Text ergibt keinen Sinn, obwohl ihm vielleicht eine
richtige Einsicht zugrundeliegt: Was hat ein phylogenetisches Apriori mit einer Hypothese
zu tun? Ist es �berhaupt sinnvoll, einen empirisch bestimmbaren Best�tigungsgrad f�r
eine Hypothese einzuf�hren, und was hat er f�r eine Aussagekraft, wenn er sich
best�ndig ver�ndern kann? Eine Metrik ist in der Mathematik ein Abstandsma� f�r zwei
Punkte in einem Raum; die Eigenschaften dieses Ma�es sind durch Axiome festgelegt. Was
immer 'angeboren' hei�en mag - eine angeborene Metrik kann es daher nicht geben. Da von
Wahrscheinlichkeiten die Rede ist, kommen offenbar auch die anderen aus Dichtkunst und
Musik stammenden Bedeutungen von 'Metrik' nicht in Betracht.
1 FR�HWALD, W.: Das Forscherwissen und die �ffentlichkeit.
�berlegungen zur Laisierung wissenschaftlicher Erkenntnisse. 117. Versammlung der
Gesellschaft Deutscher Naturforscher und �rzte, Aachen 1992. Unver�ffentlichtes
Vortragsmanuskript, 1.
2 "Der Regen ist eine prim�se Zersetzung luft�hnlicher Mibrollen
und Vibromen ..." In: Der Regen. Eine wissenschaftliche Plauderei. SCHULTE, M.
[Hrsg.] (1978): Alles von Karl Valentin. M�nchen/Z�rich: R. Piper & Co. Verlag, 35f.
Wir ertrinken in der Flut von Nachrichten und d�rsten
nach Wissen.
STIEGELBAUER
3.2. Nachrichtenflut und Wissensberg
Um einen ersten Eindruck dar�ber zu bekommen, ob sich
hinter der hohen Steigerungsrate des Nachrichtenumfangs auch eine ebensolche des
Wissensstoffes verbirgt, m��te man feststellen, wie hoch der Anteil an Kern-, Rand- und
Pseudowissen am Gesamtnachrichtenaufkommen ist. Hierzu w�ren sehr umfangreiche und
sorgf�ltige Untersuchungen erforderlich, die von einem einzelnen nat�rlich nicht
geleistet werden k�nnen, au�erdem fehlt es derzeit noch an geeigneten
Bewertungskriterien. Das folgende gibt daher nur einen pers�nlichen, auf meinen
Leseerfahrungen beruhenden Eindruck wieder, der jedoch auch von einigen anderen Autoren
geteilt wird.
Blickt man in ein �lteres wissenschaftliches Lexikon oder
Lehrbuch, so wird man dar�ber erstaunt sein, was schon damals bekannt war; das Wissen
kann also nicht in dem Ma�e zugenommen haben, wie es uns die Masse an Ver�ffentlichungen
heute vorspiegelt. Dennoch tr�gt jede Generation etwas Neues zum Wissensfundus bei und
vergr��ert ihn unabl�ssig. Wir wollen, um das Massenph�nomen im Bereich des Wissens zu
bezeichnen, nicht von einer Wissensflut, sondern von einem das gesamte Wissen
einbeziehenden Wissensberg sprechen. Selbst wenn er nicht im gleichen Ma�
zugenommen hat wie die Anzahl der Ver�ffentlichungen, so ist doch auch seine H�he
inzwischen zu einem Problem geworden.
Doch auch hier gilt es zu differenzieren. Wenn es mehrere
Wissensarten gibt, kann der Wissensberg kein monolithischer Block sein. Gem�� unserer
obigen Unterteilung besteht er, bildlich ausgedr�ckt, aus einem harten inneren Kern,
umgeben von einer diffusen, formbaren Randschicht - dem Kern- und dem Randwissen; beides
ist verh�llt von dicken Nebelschwaden aus Pseudowissen. Gemessen an der Zahl der
Publikationen m��ten die wissenschaftlichen Erfolge in der Gegenwart so gro� wie noch
nie sein. Doch bei genauerem Hinsehen erweisen sich solche Daten als tr�gerisch: 1)
Kernwissen ist in vergleichsweise wenigen Lehrb�cher dargestellt; die weitaus gr��te
Zahl der Ver�ffentlichungen bezieht sich auf Rand- und, in wachsendem Ma�, auf
Pseudowissen: Vieles wird abgeschrieben, nachgedruckt und unendliche Male in verschiedenen
Versionen von verschiedenen Autoren wiederholt. Daraus entsteht eine ungeheure, vielfach
redundante Nachrichtenflut. 2)
Nachrichtenflut und Wissensberg sind zwei eigenst�ndige
Ph�nomene; sie haben verschiedene Ursachen und erfordern eine unterschiedliche
Behandlung. Pseudowissen wird verworfen, Randwissen veraltet oder geht in Kernwissen auf;
dadurch l��t sich die Wissensmenge in Grenzen halten. Die Ver�ffentlichungen, in denen
es dargestellt wurde, bleiben hingegen f�r alle Zeiten erhalten. Gegen die
Nachrichtenflut gibt es kein Gegenmittel; Wissen �berschaubar machen, liegt dagegen in
unserer Hand. Wozu Wissensorganisation? l��t sich daher folgenderma�en beantworten:
1 OESER, G.: Das Abenteuer der kollektiven Vernunft. Evolution und
Involution der Wissenschaft. Berlin und Hamburg (1988): Verlag Paul Parey, 153, 189f.
2 ebda., 193.
Aufgabe der Wissensorganisation sollte es sein
mitzuhelfen, den Wissensfundus so aufzubereiten, da� er f�r die an eine physische
Leistungsgrenze gebundenen Menschen wieder �berschaubar wird.
Damit wurde ein allgemeines Ziel benannt; es fehlt noch der
Nachweis, da� es ein lohnenswertes Ziel ist. Wie wichtig ist die �berschaubarkeit von
Wissen? Das l��t sich am besten kl�ren, wenn man die Folgen untersucht, die
un�berschaubares Wissen mit sich bringt. Sie ergeben sich aus den rekursiven Mechanismen
der Wissensgewinnung.
4. Rekursive Mechanismen bei der Wissensgewinnung
Die Wissensgewinnung verl�uft rekursiv �ber verschiedene
miteinander verflochtene und sich selbst verst�rkende Kreisl�ufe. Jeder Kreislauf
besteht aus mehreren Zwischenstationen, die nacheinander durchlaufen werden. Die
Ergebnisse eines Umlaufs gehen als Eingangsdaten wieder mit in den neuen Umlauf ein; daher
die selbstverst�rkende Wirkung. Solche Kreisl�ufe f�hren, sich selbst �berlassen,
entweder zu einer stetigen, meist unmerklichen Verbesserung oder Verschlechterung. In
welche Richtung die selbstverst�rkende Wirkung l�uft, ob zum Guten oder zum Schlechten,
h�ngt ma�geblich von der G�te der Eingangsdaten ab. Angesichts der Nachrichtenflut und
der gro�en Menge an Pseudowissen ist zu vermuten, da� eher das letztere der Fall sein
wird. Im folgenden betrachten wir zwei Kreisl�ufe, die diese Vermutung best�tigen.
4.1. Nachrichtenflut verst�rkt Nachrichtenflut
Im ersten Kreislauf treibt die Nachrichtenflut die
Spezialisierung voran. Mit der Spezialisierung w�chst der Drang, die mit ihr verbundene
Isolierung zu �berwinden; immer mehr Dilettantismus und Inkompetenz sind die Folge. Die
Inkompetenz verursacht Pseudowissen, und Pseudowissen f�rdert schlie�lich wieder die
Nachrichtenflut.
Das Ph�nomen ist nur allzu gut bekannt: es gibt zu viele
Ver�ffentlichungen. Der Mensch vermag in seinem Leben nicht viel mehr als 2000 B�cher zu
lesen. Wie gering diese Menge im Vergleich zur Menge der produzierten B�cher ist,
veranschaulicht ein einfaches Zahlenbeispiel: Wer viel liest, schafft im Durchschnitt pro
Woche ein Buch; das entspricht 50 B�cher pro Jahr oder 1000 B�cher in 20 Jahren. Allein
in Deutschland erscheinen j�hrlich etwa 100.000 neue B�cher; f�r ihre Lekt�re
ben�tigte man 2000 Jahre. W�hrend dieser Zeit w�rden allein in Deutschland bei
gleichbleibender Produktionsh�he weitere 200 Millionen neue B�cher erscheinen. Dieser
Vergleich, bei dem fremdsprachige Titel sowie Zeitschriftenartikel noch gar nicht
mitgerechnet wurden, zeigt, wie aberwitzig das Mi�verh�ltnis von Stoffmenge und
Leseleistung ist. Da der Mensch physisch nur eine bestimmte Menge von Nachrichten
aufzunehmen in der Lage ist, die Nachrichten aber unaufh�rlich zunehmen, mu� er, um den
�berblick zu behalten, das Arbeitsgebiet fortw�hrend einengen. Wissensgebiete werden
aufgegeben, nicht weil sie uninteressant oder unbedeutend geworden w�ren, sondern weil
die Zeit fehlt, sich mit ihnen zu besch�ftigen. Wenn die Zahl der Ver�ffentlichungen
st�ndig w�chst, der darin behandelte Stoff dagegen sich auf ein immer spezielleres
Gebiet bezieht, so mu� notwendigerweise der geistige Horizont immer enger werden. Dessen
ungeachtet wird weiterhin unaufh�rlich publiziert, denn der Mensch pflegt auch bei einem
nichtigen Stoff seine Leistungsgrenzen auszusch�pfen. Jede neue Publikation vermehrt den
Bestand; eine weitere Spezialisierung ist die Folge, und am Ende dieses Kreislaufs steht
ein Spezialist, der von nichts alles wei�: Nachrichtenflut treibt die
Spezialisierung voran.
Dem Spezialisten darf man aus seiner Haltung keinen Vorwurf
machen, denn sie ist ein Akt der Selbstbehauptung, entspringt sie doch dem sehr
verst�ndlichen Ziel, seine Kompetenz zu erhalten. Das gelingt ihm aber nur, indem er
sich, mehr und mehr Terrain preisgebend, auf ein immer engeres Gebiet zur�ckzieht; d.h.
seine Kompetenz auf einem immer kleineren Gebiet mu� er sich durch Inkompetenz auf einem
immer gr��eren erkaufen. Inkompetenz hei�t: In anderen Wissenschaften, vielfach aber
auch schon bei sehr lebensnahen Dingen, kann ein Spezialist mangels entsprechender
Kenntnisse nicht mehr mitreden und vernunftgem�� entscheiden: er verliert au�erhalb
seines Spezialgebietes seine Urteilsf�higkeit: Fortgesetzte Spezialisierung
vergr��ert die Inkompetenz.
Die meisten Menschen finden sich mit ihrem
Spezialistendasein ab; einige haben jedoch das Unbefriedigende ihrer Lage erkannt und
versuchen, indem sie sich noch einem weiteren Fach zuwenden, aus ihrem Spezialistentum
auszubrechen. Nun sind sie aber, eben weil sie in einem Fach Spezialisten sind, in den
anderen F�chern Laien und m�ssen sich daher notgedrungen auf ihrem neuen Gebiet
einarbeiten. Eigentlich sollte dies gar nicht m�glich sein, denn die Tendenz zu einer
immer gr��eren Spezialisierung haben wir ja mit der wachsenden, zu einer Einschr�nkung
des Fachgebietes zwingenden Stoffmenge erkl�rt. Sie sto�en sehr schnell wieder an ihre
physischen Grenzen. Aufgrund ihrer kurzbemessenen Zeit, aber auch aufgrund ihrer
Inkompetenz wird es ihnen kaum m�glich sein, bis in das Kernwissen einer fremden
Disziplin vorzudringen. Ihre Dom�ne bleibt das durch Sekund�rliteratur vermittelte, mit
Pseudowissen durchsetzte Randwissen. Oberfl�chlichkeit ist der Preis, den sie zahlen
m�ssen, um die zus�tzliche Stoffmenge bew�ltigen zu k�nnen. Oberfl�chliche Leser aber
werden zu oberfl�chlichen Autoren, die statt Wissen Pseudowissen produzieren: Inkompetenz
verursacht Pseudowissen.
Pseudowissen senkt das Niveau; die Zahl derer, die sich
durch ihr neu erworbenes Wissen dazu berufen f�hlen, mitzureden, nimmt dadurch zu; die
meisten von ihnen publizieren, und so verst�rkt Pseudowissen die Nachrichtenflut.
Besonders betroffen hiervon sind F�cher wie Erkenntnistheorie und Psychologie, die, weil
sie dem eigenen Erfahrungsbereich zug�ngliche Probleme ber�hren, ein Gef�hl von
Kompetenz vermitteln, doch auch die auf medienwirksame Themen zielende sogenannte
Wissenschaftspublizistik tr�gt das Ihre an der Nachrichtenflut bei.
4.2. Pseudowissen bewirkt Pseudowissen
Das haupts�chlich lebensweltliche Anliegen betreffende
Pseudowissen f�hrt in einem weiteren, mit dem obigen sich kreuzenden Kreislauf zu neuem
Pseudowissen. In diesem sich ebenfalls selbstverst�rkenden Kreislauf steigert
Pseudowissen die Inkompetenz, die Inkompetenz f�hrt zur Desorientierung, die
Desorientierung bewirkt Deskommunikation und diese wiederum f�rdert die Bildung von
Pseudowissen.
Pseudowissen erweckt die Illusion des Bescheidwissens und
verhindert dadurch, sich mit einer Sache gr�ndlich auseinanderzusetzen und bis zum
Kernwissen vorzusto�en. Pseudowissen bildet ein durch zahlreiche Ver�ffentlichungen
befriedigtes Bed�rfnis nach leichtem Stoff aus, der die Vorurteile des bereits
verinnerlichten Pseudowissens best�tigt und f�r weiteres Pseudowissen empf�nglich
macht. Im Ged�chtnis sammeln sich als "Wissenspolster" nur noch lose
miteinander verbundene "highlights" an. Parallel dazu geht der Bezug zur
Wirklichkeit immer mehr verloren; es wird eine durch die begrenzte Erfahrung vermittelte
Scheinwelt aufgebaut. Sie schr�nkt, sich selbst festigend und damit die Inkompetenz
verst�rkend, ma�geblich die Auswahl der Nachrichten ein: Dinge, die dazu beitragen
k�nnten, die Scheinwelt aufzubrechen, werden nicht mehr wahrgenommen: Pseudowissen
steigert die Inkompetenz.
Wir werden st�ndig informiert und sind doch ohne
Orientierung.
K. STEINBUCH
Wer in einer Scheinwelt lebt, wird �ber kurz oder lang mit
der wirklichen in Konflikt geraten und sich vor unl�sbare Probleme gestellt sehen: Indem
der pers�nliche Wissensfundus von einem immer gr��er werdenden Anteil an Pseudowissen
durchsetzt wird, das u.a. die Eigenschaft hat, nicht ganz falsch und nicht ganz wahr zu
sein, werden die Menschen immer handlungsunf�higer, orientierungsloser und unsicherer in
ihrem Urteil; in ihrer Not greifen sie nach jedem sich ihnen bietenden Ersatzideal, sie
werden anf�lliger gegen�ber politischen und sozialen Ideologien, geben�ber okkulten
Heilslehren und - in den Wissenschaften - gegen�ber fragw�rdigen Paradigmen: Inkompetenz
f�hrt zur Desorientierung
Orientierungslosigkeit bedeutet auch, da� die F�higkeit
verloren gegangen ist, die eigene Arbeit richtig einzuordnen. Viele Vortr�ge auf
wissenschaftlichen Tagungen sind daher nur noch Monologe; keiner ist ernsthaft an den
Argumenten des anderen interessiert, wie die unz�hligen fruchtlosen Diskussionen zeigen,
die h�ufig nur als Vorwand dienen, den eigenen Standpunkt darzustellen;
Mi�verst�ndnisse sind die notwendige Folge. Es droht eine Sprachverwirrung babylonischen
Ausma�es: Desorientierung bewirkt Deskommunikation. GORKI hat in seinem
Roman "Klim Samgin" diesen Proze� mit gro�er Meisterschaft dargestellt.1
1 GORKI, M.: Klim Samgin. Vierzig Jahre. M�nchen (1980): Winkler Verlag
(2 Bde.).
Echte Kommunikation n�hert mit fortlaufender Dauer die
Standpunkte immer weiter an; am Ende kommt es zu einer Verst�ndigung. Deskommunikation
dagegen hat die gegenteilige Wirkung; je l�nger sie dauert, desto mehr wird aneinander
vorbeigeredet: Deskommunikation macht geschw�tzig und f�rdert die
Produktion von Pseudowissen.
4.3. Unordnung im Wissensbestand
Unsere Unkenntnis von uns selbst, so hat der Mediziner
CARREL schon vor etwa 60 Jahren erkannt, r�hrt nicht davon her, da� es zu schwierig
w�re, die n�tigen Wissensgrundlagen zu beschaffen, oder da� man nur sp�rliche und
ungenaue Angaben bek�me. Im Gegenteil: schuld daran ist gerade der gewaltige �berflu�
und das Durcheinander von Wissensstoff, den die Menschheit im Laufe der Zeiten �ber sich
selber gesammelt hat, 1) so da� wir vor lauter F�lle des Materials die gr��te M�he
haben, die richtige Nutzanwendung daraus zu ziehen. 2) CARREL dachte hier vor allem an
die praktische Anwendung der Medizin; doch die beiden Mechanismen haben deutlich gemacht,
da� auch die Wissenschaften selbst mit ihren eigenen Ergebnissen immer weniger anfangen
k�nnen: Das Kernwissen bleibt nahezu unver�ndert, w�hrend das hochtechnische Randwissen
der Spezialisten und das Pseudowissen der Dilettanten immer mehr �berhand nimmt:
Der Wissensbestand ist in Unordnung geraten durch die
Masse des auf zahllose Ver�ffentlichungen breitgestreuten Randwissens und durch die
zunehmende Menge an Pseudowissen.
Das Randwissen der Spezialisten ist noch nicht oder
h�chstens technisch nutzbar, das Pseudowissen der Dilettanten erweist sich als
irrelevant: In einer Zeit wachsenden Handlungsbedarfs taugt das, was an Wissen produziert
wird, immer weniger zur L�sung lebensweltlicher Probleme; die Verbindung zwischen
Geistesprodukten und Handeln ist gekappt, 3) und trotz �berquellender B�chermagazine in
den Bibliotheken nimmt die Unwissenheit zu. Das scheint ein Widerspruch zu sein; doch
nicht was in den B�cher steht, sondern was die Menschen in ihren K�pfen an Wissen
verf�gbar haben, ist das Entscheidende. Hier gibt es wohl heute nur noch die Wahl
zwischen Spezialisten- oder Dilettantentum - oft beides in einer Person vereinigt; das
eine ist so unbefriedigend wie das andere: Ein Spezialist verliert au�erhalb seines
Spezialgebietes seine Urteilsf�higkeit, ein Dilettant hat sie niemals besessen. Beide
k�nnen in lebenswichtigen Dingen mangels geeigneter Kenntnisse oft nicht mehr mitreden:
sie sind inkompetent geworden. Geistige L�hmung, Ratlosigkeit, Mangel an Weitsicht,
Fehlentscheidungen und Mi�management sind - wie t�glich in der Zeitung zu lesen - die
notwendige Folge. Offenbar gelingt es immer weniger, die Gegenwartsprobleme zu meistern;
von einer Bew�ltigung der Zukunftsaufgaben gar nicht zu reden.
1 CARREL, Alexis: Der Mensch das unbekannte Wesen. Stuttgart/Berlin
(1936): Deutsche Verlagsanstalt, 41.
2 ebda., 10.
3 POSTMAN, N.: Wir informieren uns zu Tode, in: Die Zeit Nr.41 vom
2.10.1992, 61-62.
Die beiden rekursiven Mechanismen des Wissensbetriebes
lassen f�r die Zukunft nichts Gutes hoffen. Bleiben sie in ungehemmter T�tigkeit, ist
die Zerst�rung des Wissensbestandes und mit ihr der langsame, aber unaufhaltsame Zerfall
unserer Kultur unausbleiblich. Angesichts dieser Aussichten erscheint die
Wissensorganisation als eine dringliche Aufgabe von gro�er gesellschaftlicher Bedeutung.
Wie sollte ihr T�tigkeitsfeld aussehen? Mit dieser abschlie�enden Frage besch�ftigen
wir uns im folgenden Abschnitt.
5. Wissensorganisation
Seit Jahrzehnten wird in regelm��igen Abst�nden
berechtigte Klage �ber die Nachrichtenflut und ihre gesellschaftssch�digende Wirkung
gef�hrt. Seltsam genug: Obwohl jeder Wissenschaftler massiv unter der Nachrichtenflut
leidet, sind alle Vorschl�ge, wie man sie beheben oder doch wenigstens eind�mmen
k�nnte, bisher g�nzlich wirkungslos geblieben; jeder kennt den Mi�stand und leidet
darunter, doch kaum jemand wehrt sich dagegen oder ist bereit, beim Ver�ffentlichen etwas
mehr Zur�ckhaltung zu �ben. Eine weitere zeittypische Eigenart ist, da� man - unter
Mi�achtung der eigentlichen Ursachen - zu schnell und aus einer zu engen, vom
pers�nlichen Leidensdruck gepr�gten Sichtweise mit L�sungsvorschl�gen hervortritt, die
sich gegen einzelne Symptome wie zunehmende Inkompetenz, Werteverlust, Deskommunikation in
den Wissenschaften usw. richten. �berdies wird nicht gepr�ft, ob der Vorschlag
realisierbar ist oder ob er, befolgte man ihn, tats�chlich eine Besserung bewirkte, ja
man erspart sich oft die M�he nachzuweisen, ob er �berhaupt irgend etwas mit den zuvor
ger�gten M�ngeln zu tun hat.
Solche mit bester Absicht ge�u�erten Vorschl�ge tragen
bereits deutliche Z�ge von Inkompetenz: Die von der Nachrichtenflut ausgehende Krankheit
hat, wie der g�nzlich unbrauchbare Begriffsapparat beweist, inzwischen auch die zu ihrer
Bek�mpfung angetretenen Personen befallen. Meist wird �bersehen, da� man es mit einem
komplexen kybernetischen System zu tun hat, dessen Teilsysteme sich fortlaufend
aufeinander einregeln; Einzelma�nahmen haben daher kaum Aussicht auf Erfolg. �berhaupt
darf es nicht Laien �berlassen bleiben, nach geeigneten Gegenma�nahmen Ausschau zu
halten, so, als w�ren sie bereits bekannt und brauchten nur noch angewendet zu werden.
Das ist jedoch nicht der Fall; sie herauszufinden sollte vielmehr Forschungsaufgabe der
Wissensorganisation sein.
Ihr Hauptaugenmerk lag bisher auf dem Ordnen und
Bereitstellen von Wissen. Wissensorganisation so verstanden, kommt, weil sie die Chaos
schaffenden Kr�fte gew�hren l��t und sich mit Aufr�umarbeiten begn�gt, eigentlich
immer zu sp�t. Doch Wissensorganisation mu� auch in die Zukunft hineinwirken; sie mu�
bereits auf die Fehlentwicklungen Einflu� nehmen, um Unordnung zu verhindern, d.h. sie
mu� sowohl die Masse des vorhandenen Wissensstoffes bew�ltigen als auch etwas zur
Verringerung der Masse beitragen. Diese beiden Ziele gemeinsam zu verfolgen, ist schon
deswegen sinnvoll, weil sie in vielen F�llen die gleichen Methoden erfordern. Daraus
ergeben sich mehrere aufeinander aufbauende Teilaufgaben; die wichtigsten sind:
Bereitstellen von Literatur, Einstufung von wissenschaftlichen Arbeiten und die
systematische Darstellung.
5.1. Bereitstellen von Literatur
Die Methoden und Ziele in der Literaturrecherche tragen
gegenw�rtig kaum der begrenzten menschlichen Leistungsf�higkeit Rechnung. Im Vordergrund
des Interesses stehen vielmehr die von der Ver�ffentlichungsflut hervorgebrachten
systemtechnischen Probleme. Als oberster Grundsatz gilt: Was an Material anf�llt, mu�
auch verf�gbar gehalten werden. Mit wachsender Datenmenge erh�ht sich damit
zwangsl�ufig auch der technische Aufwand. 1) Die entscheidende Frage ist aber: verf�gbar
halten f�r wen? Der Systementwickler m�chte mit der von ihm angestrebten
Leistungssteigerung dem Anwender eine bessere Recherche bieten. Doch nach welchem Ma�
wird hier auf 'besser' entschieden? Wenn der Anwender physisch nicht mehr in der Lage ist,
das Retrieval-Ergebnis aufgrund seines Umfangs zu verarbeiten, behindert eher jede weitere
Leistungssteigerung seine Arbeit, als da� sie ihm hilft.
Die Verh�ltnisse zwingen zum Umdenken. Technische
Perfektion n�tzt dem Anwender nur in Verbindung mit relevantem Datenmaterial. Im
Information Retrieval gilt ein Dokument als relevant bez�glich einer Anfrage, wenn
es sich mit dem in der Anfrage beschriebenen Thema besch�ftigt. 2) Diese vom
Systementwickler gepr�gte Sichtweise ber�cksichtigt nur die Entsprechung zwischen
Anfrage und Dokument, wertet aber nicht den Gehalt der Dokumente. Wenn es jedoch zu einer
Suchanfrage Tausende von "relevanten" Literaturstellen gibt, so hat der Begriff
'Relevanz' f�r den Anwender jeden Sinn verloren. Nun k�nnte man zwar die
Ver�ffentlichungsflut durch administrative Ma�nahmen etwas eingrenzen, doch
grunds�tzlich verhindern l��t sie sich nicht, und so sollte man wenigstens die
Retrievalflut beschr�nken. Relevanz ist f�r den Anwender untrennbar mit
�berschaubarkeit verbunden; sie l��t sich erzielen, indem man zum einen das Material
begrenzt und zum anderen f�r �berschaubare Suchantworten sorgt.
Es ist ein einfaches Rechenexempel, da� die Trefferquote
desto kleiner ausfallen mu�, je weniger Titel dem System bekannt sind. Ziel sollte es
daher sein, m�glichst viele �berfl�ssige Arbeiten gar nicht erst aufzunehmen, denn f�r
das blinde Erfassen jedweder Ver�ffentlichung besteht keine Notwendigkeit: Der
�berwiegende Teil der zeitgen�ssischen Ver�ffentlichungen geh�rt nicht
verschlagwortet, sondern verrei�wolft! 3) Nach MONTAIGNE sollte man die ungeschickten
und unn�tzen Schriftsteller, ebenso wie die Landstreicher und
1 So gilt z.B. ein Information Retrieval System u.a. f�r desto
leistungsf�higer, je gr��er sein Recall (Anzahl der relevanten Antworten auf eine
Anfrage dividiert durch die Anzahl der insgesamt m�glichen relevanten Antworten) ist. Ein
Systementwickler wird daher bestrebt sein, der Obergrenze von 100% m�glichst
nahezukommen.
2 SALTON, G. & McGILL, M.J. (1987): Introduction to modern
information retrieval. Auckland etc.: McGraw-Hill Book Company (3. Aufl. 1987), 163.
3 Diese Tendenz wird durch die weltweite Rechnervernetzung und durch das
Aufkommen von Multimedia-Dokumenten noch einen zus�tzlichen Schub bekommen: Autoren, die
schon mit dem Einmedium Text ihre Schwierigkeiten haben, werden mit den multimedialen
Darstellungsmitteln noch weniger zurechtkommen. �berdies bleibt der Inhalt einer Arbeit
d�rftig, auch wenn sie mit Bild und Ton garniert wird. In Zukunft kann im Prinzip jeder
solche Produkte in Sekundenschnelle weltweit verbreiten. Einen Vorgeschmack auf das
Kommende geben schon heute die Internet News.
Faulenzer, durch Gesetze im Zaum halten. 1) Durch
eine gezielte Auslese h�tte man eine weniger drastische Handhabe, �berfl�ssige Arbeiten
vergessen zu machen. Sie setzt allerdings geeignete Bewertungskriterien f�r den Gehalt
eines Dokumentes voraus, die es noch aufzustellen gilt. Doch vor allem sollte der Autor
selbst die M�glichkeit haben, eine alte Arbeit zur�ckzuziehen und durch eine bessere zu
ersetzen.
W�hrend oft eine allzu akribische Indexierung und die
Aufnahme von irrelevantem Datenmaterial Ursache f�r eine un�berschaubare Suchantwort
ist, wird hierf�r gern dem Fragesteller und seiner ungeschickten Suchanfrage die Schuld
gegeben. Doch der Benutzer sucht nach inhaltlichen Gesichtspunkten; er sucht, bildlich
gesprochen, nach einem Tongef�� und bekommt statt dessen eine Kiste voll Scherben
geliefert, von denen er noch nicht einmal sicher sein kann, da� sie zum gleichen Gef��
geh�ren. Wie soll er unter diesen Umst�nden, noch zumal mit den primitiven
Ausdrucksmitteln der BOOLEschen Logik, die Menge der Scherben sinnvoll eingrenzen? Wenn
erst einmal �berfl�ssige Arbeiten erfa�t sind, dann gibt es immer Suchanfragen, f�r
die diese Arbeiten im Sinne des Information Retrieval relevant sind, f�r den Benutzer
aber nicht: Angenommen, es existierten 100 identische Arbeiten von verschiedenen Autoren.
Bez�glich einer einschl�gigen Suchanfrage w�ren alle 100 relevant, f�r den Benutzer
ist es aber nur eine; er hat keine M�glichkeit, durch eine geschicktere Suchanfrage die
restlichen auszuschlie�en. Ebenso ergeht es ihm mit unbrauchbaren Arbeiten, wenn diese
nicht beim Indexieren ausdr�cklich als solche gekennzeichnet werden.
Ein Arch�ologe beschreibt seine Funde mangels inhaltlicher
Anhaltspunkte nach ihren �u�erlichen Merkmalen wie Fundstelle, Materialbeschaffenheit,
Farbe, Form, Gr��e und numeriert sie durch, um sie eindeutig identifizieren zu k�nnen.
In ganz �hnlicher Weise wird versucht, Literatur durch Vergabe von Schlagw�rtern zu
erfassen. Handelt es sich dabei um eine Beschreibung nach inhaltlichen oder nach
�u�erlichen Merkmalen? Die Antwort lautet: sowohl als auch, denn es kommt darauf an, ob
die fragliche Ver�ffentlichung nur als eine Scherbe oder als ein vollst�ndiges Gef��
aufzufassen ist. Fr�her, als die Ver�ffentlichungen noch halbwegs ganzen Gef��en
entsprachen, beschrieben die Schlagw�rter auch noch weitgehend den Inhalt; heute
�berwiegen mit dem Randwissen die Scherben, und das Schlagwort, auch wenn es in dem
fraglichen Text vorkommt, hat keine andere Ordnungsfunktion als etwa die Farbe bei
Scherben. Auf die Praxis der Inhaltserschlie�ung hat sich der Qualit�tsverlust des
Erschlie�ungsmaterials offenbar nicht ausgewirkt: Es werden nach wie vor Schlagw�rter
vergeben; aber wie die Beschreibung von Tonscherben aufwendiger ist als die eines
Gef��es, so ist auch die Verschlagwortung von Randwissen aufwendiger als die von
Kernwissen; Pseudowissen mit seinen Worth�lsen gar kann mangels eines konsistenten
Gehalts eigentlich gar nicht sinnvoll beschrieben werden. Je d�rftiger und konfuser der
Inhalt, desto diffiziler die Verschlagwortung; am Ende charakterisieren die Deskriptoren
nur noch die Nachricht selbst, also gewisserma�en nur das Verpackungsmaterial, aber nicht
mehr ihren Gehalt. Diese Entwicklung beg�nstigt die Retrievalflut.
1 MONTAIGNE, M. de: Essais III. Z�rich (1992): Diogenes Verlag, 97.
Bei der Literaturrecherche werden aus Anwendersicht in der
Hauptsache zwei Fehler gemacht, denen in Zukunft gr��ere Aufmerksamkeit geschenkt werden
sollte: (1) bleibt der Bestand nicht von Pseudowissen verschont, d.h. Scherben und
wertlose Steine gelten gleichviel; und (2) wird eine Ver�ffentlichung, z.B. ein Buch,
weil sie eine physikalisch abgeschlossene Einheit bildet, immer zugleich auch als eine
inhaltlich abgeschlossene Einheit betrachtet, d.h. Scherbe und Gef�� werden einander
gleichgestellt.
5.2. Einstufung von wissenschaftlichen Arbeiten
Relevanz gewinnen bedeutet nicht nur einen m�glichst guten
�berblick �ber den Bestand bieten, es bedeutet auch, �berfl�ssiges vermeiden und
Unordnung erst gar nicht aufkommen lassen. Aus diesen beiden Teilaufgaben besteht die
Einstufung einer wissenschaftlichen Arbeit. Die erste erfordert ihre Einordnung in den
Kreis der schon vorhandenen Arbeiten und betrifft vorwiegend Bibliothekare, die zweite,
die eine Bewertung ihrer Qualit�t erfordert, in der Hauptsache Autoren und Herausgeber.
Ein geeignetes Einstufungsinstrumentarium ist noch ein Desiderat. 1) Es gibt bisher nur
wenige Forschungsvorhaben, bei denen Texte selbst Gegenstand der Untersuchung sind. Wir
besitzen daher noch zu wenig Erfahrungen �ber die inhaltliche Erschlie�ung von Texten
und die Erkennung von Gedankenstrukturen, vor allem im Hinblick auf eine maschinelle
Analyse. Im folgenden werden die beiden Teilaufgaben kurz skizziert.
Wer einen genauen �berblick hat, f�r den ist auch eine
gro�e Anzahl von Dingen noch �berschaubar. Doch '�berblick' ist ein relativer Begriff;
es gibt verschiedene Standpunkte und Sichtweisen, und so gilt es oft sehr disparate
Anspr�che zu befriedigen. Ein Wissenschaftshistoriker z.B. interessiert sich auch f�r
die Irrt�mer einer Epoche und m�chte daher die pseudowissenhaltigen Arbeiten nicht
missen; der betreffende Fachwissenschaftler dagegen m�chte gerade diese ausgeschlossen
haben. Die deskriptiv verfahrende Inhaltserschlie�ung kann diesen Konflikt nur
unzureichend l�sen, denn sie konzentriert sich auf die Erfassung von Inhalten; hier kommt
es aber darauf an, die Beziehungen festzuhalten, die zwischen einer neuen Arbeit und den
im System bereits vorr�tigen Arbeiten bestehen. Bei diesen Beziehungen handelt es sich um
Wissen �ber den Bestand, das in den Arbeiten selbst nicht vorkommt. Es l��t sich
vorzugsweise als semantisches Netz darstellen und erm�glicht dem Anwender, eigene
Sichtweisen auszubilden und unter diesen nach Literatur zu suchen. So gestattet unter
"Gef��-Sichtweise" die Angabe 'Scherbe x ist Teil von Gef�� y' eine viel
bessere Auslese als die Beschreibung von Form und Farbe dieser Scherbe, und mit Angaben
wie 'x enth�lt dasselbe wie y' lie�e sich die Retrievalflut wirkungsvoller begrenzen als
durch die Hinzunahme weiterer beschreibender Suchbegriffe.
1 Elektronisches Publizieren er�ffnet hier vielleicht ganz neue Wege:
Dem Benutzer k�nnte die M�glichkeit einger�umt werden, die von ihm abgerufene und
gelesene Arbeit (eventuell anonym) zu bewerten. Solche Bewertungen, jedem zug�nglich,
w�ren den zuk�nftigen Lesern eine Hilfe, aber auch dem Autor selbst, der, anders als bei
gedruckten Beitr�gen, nachtr�gliche Verbesserungen vornehmen und sich gegen
ungerechtfertigte Kritik wehren k�nnte.
Warum werden eigentlich so viele �berfl�ssige Arbeiten
gedruckt? Das geschieht offenbar deshalb, weil die Herausgeber, inzwischen ebenfalls vom
allgemeinen Kompetenzverlust erfa�t, immer seltener ihrer Kontrollpflicht nachzukommen
verm�gen. Warum aber geben sich die Autoren �berhaupt erst so viel M�he und verfassen,
meist unentgeltlich, �berfl�ssige Arbeiten? Herausgebern und Autoren scheint es an einem
Qualit�tsma�stab zu fehlen. Die Qualit�t wissenschaftlicher Arbeiten lie�e sich
bereits dadurch merklich erh�hen, wenn man den Autoren zur Pflicht machte, gewisse
Mindestanforderungen einzuhalten. Doch dabei handelt es sich um naheliegende, rein formale
Auflagen, z.B. den Bezug zu anderen Arbeiten angeben; die eigentliche Qualit�tskontrolle
dagegen mu� vom Gehalt ausgehen. Bereits FR�HWALD wies auf die Bewertungsproblematik hin
und bem�ngelte, da� vor allem in den Geisteswissenschaften die Bewertung eines rapide
wachsenden Wissensstoffes ein v�llig ungel�stes Problem sei. 1) Er m�chte die Kosten
von �berfl�ssigem Wissen berechnen 2) und herausfinden k�nnen, welches Wissen der
Bewahrung wert und welches ihrer nicht wert ist. 3) Die Bem�hungen um die Entwicklung
von Wertungsinstrumenten m��ten seiner Meinung nach in allen F�chern ebenso intensiv
vorangetrieben werden wie die um die Erweiterung unseres Kenntnisstandes. 4) FR�HWALD
setzt hier, der Tradition folgend, Wissen gleich Ver�ffentlichung. Doch es gibt kein
�berfl�ssiges Wissen, sondern nur �berfl�ssige Ver�ffentlichungen. Vom Pseudowissen
abgesehen, ist jedes Wissen bewahrenswert; bei einer Bewertung kann es daher nur darum
gehen, Pseudowissen von den anderen Wissensarten abzugrenzen. In der Mathematik und den
Naturwissenschaften gibt es aufgrund der allgemein anerkannten Theorien sehr wohl
Bewertungsm�glichkeiten: Eine Arbeit kann im Widerspruch zu einer Theorie stehen, kann
sie erg�nzen usw. Allgemeine fach�bergreifende Wertungsinstrumente im FR�HWALDschen
Sinn k�nnen nur von formalem Charakter sein; inhaltliche m�ssen sich begreiflicherweise
auf den Kenntnisstand des jeweiligen Faches st�tzen, und dieser wird nirgends besser
repr�sentiert als in einer Theorie, verstanden als eine systematische Darstellung eines
Sachgebietes. Die Arbeit an solch einer Theorie, nicht die Entwicklung von
Wertungsinstrumenten, gilt es daher voranzutreiben.
5.3. Systematische Darstellung
Zahlreiche einzelne gute Gedanken finden sich �ber viele
ansonsten schlechte Arbeiten verstreut; es ist also nicht nur die Wissensmenge an sich,
die uns zu schaffen macht, sondern auch ihre Aufteilung in kleine Brocken und deren
aufwendige Verpackung. MERTEN hat z.B. 160 "Definitionen" von 'Kommunikation'
aufgelistet. 5) Nach deren Lekt�re sollte man eigentlich kundig sein, doch man ist im
Gegenteil verwirrter als zuvor: Es ist eine Sammlung von einzelnen unzusammenh�ngenden
Gedankensplittern. CARREL scheint als erster die Notwendigkeit einer systematischen
Darstellung erkannt zu haben: Unsere Aufgabe ist es, aus all dem vielen Ungleichartigen
eine vern�nftige Auswahl zu
1 FR�HWALD a.a.O., 2.
2 ebda., 3.
3 ebda., 5.
4 ebda., 4.
5 MERTEN, K.: Kommunikation. Eine Begriffs- und Proze�analyse. Opladen
(1977): Westdeutscher Verlag, 168-182.
treffen. 1) Wenn unser Wissen uns dienlich sein soll,
mu� es in b�ndiger, synthetischer Form vorliegen. 2) In einer systematischen
Darstellung werden mehrere solcher Gedanken aufgegriffen und nach einem bestimmten Prinzip
zu einer neuen Wissenseinheit geformt, so wie man einzelne Scherben zu einem Gef��
zusammensetzt. Der Vorteil liegt auf der Hand: Die Synthese erlaubt, unechtes Gut
auszuscheiden, denn wenn bekannt ist, welche Gef��form sich ergeben mu�, l��t sich
auch sagen, ob ein fragliches Teil dazugeh�rt oder nicht. Die Anzahl der Elemente
verringert sich, dadurch gewinnt man an �berschaubarkeit. Wie bei einem Merkvorgang
werden viele Einzelteile zu einem neuen Gegenstand gr��erer Komplexit�t
zusammengefa�t. Die Scherben verlieren ihre Identit�t; auf ihre Beschreibung kann daher
verzichtet werden. Wissen geht dabei nicht verloren, im Gegenteil, es entsteht sogar
neues, denn das ganze Gef�� ist mehr als die Summe seiner Scherben; die
Ver�ffentlichungen, aus denen die Gedanken stammen, k�nnen ohne Schaden der
Vergessenheit anheimfallen.
In Anlehnung an W. VOSSENKUHL r�t FR�HWALD zu einer
Laisierung des wissenschaftlichen Wissens; damit ist keine Popularisierung gemeint,
sondern etwas mit verst�ndlichen Mitteln den begrifflich geschulten Laien und Kollegen
anderer Disziplinen durchschaubar machen. Zugleich h�lt FR�HWALD die Laisierung f�r ein
Mittel, die eigenen Ergebnisse hinsichtlich Werthaltigkeit und Best�ndigkeit auf die
Probe zu stellen. 3) Nun sollte zwar jeder um eine klare Ausdrucksweise bem�ht sein; doch
Laisierung ist nicht das, was CARREL unter 'b�ndige, synthetische Form' versteht.
FR�HWALD verkennt die eigentlichen Ursachen f�r die Verst�ndniskrise, indem er sie
lediglich f�r ein Formulierungsproblem h�lt. Eine systematische Darstellung kann, mu�
aber nicht zugleich auch allgemein verst�ndlich sein. So sind die
mathematisch-naturwissenschaftlichen Theorien systematische Darstellungen ihres
Sachgebietes, aber um sie zu verstehen, ist eine besondere Ausbildung erforderlich. Steht
aber einmal solch eine Darstellung zur Verf�gung, dann ist auf ihrer Grundlage auch eine
Laisierung m�glich, wie die zahlreichen Bem�hungen der Naturwissenschaften belegen; in
den Geisteswissenschaften hingegen mangelt es an solchen Darstellungen; deswegen ist dort
die Laisierung, wie FR�HWALD zu Recht beklagt, noch sehr wenig entwickelt. Es h�tte aber
z.B. wenig Sinn, die oben erw�hnten 160 Definitionen von 'Kommunikation' verst�ndlich
darzustellen, vielmehr m��te ihr Gehalt in einem einzigen zusammenh�ngenden
Gedankengang verdichtet werden. Diesen Gedankengang zu finden, macht die eigentliche
Schwierigkeit aus, nicht ihn klar darzulegen.
Ein nicht unerheblicher Teil der gegenw�rtigen
Wissenschaftsmisere d�rfte zu Lasten eines fragw�rdigen, stets die Entdeckung von etwas
Neuem fordernden Forschungspostulats gehen. Neue spektakul�re Scherben produzieren ist
offensichtlich verdienstvoller, als alte Scherben in jahrelanger m�hevoller Kleinarbeit
zu einem brauchbaren Gef�� zusammenzusetzen. Das Ergebnis dieser einseitigen Bewertung
wissenschaftlicher Leistung ist nicht zu �bersehen: Die wissenschaftliche Arbeit wird
zunehmend uneffektiver und deren Ergebnisse f�r die Gesellschaft immer irrelevanter. Wir
m�ssen offenbar nicht nur unsere Auffassung vom Typ des Wissenschaftlers revidieren,
sondern auch die
1 CARREL a.a.O., 41.
2 ebda., 10.
3 FR�HWALD a.a.O., 7.
Bedingungen, unter denen wissenschaftliche Forschung
betrieben werden soll: 1) Die Entdeckung von etwas Neuem darf nicht mehr das alleinige
erstrebenswerte Ziel wissenschaftlicher Forschung sein; die gleiche Wertsch�tzung sollte
vielmehr auch der Synthese wissenschaftlicher (Einzel)ergebnisse entgegengebracht werden.
6. Res�mee
Der Wissenschaftsbetrieb ist fragw�rdig geworden; die
Wissenschaften produzieren �berwiegend Wissen f�r den eigenen Gebrauch. Trotz steigenden
Bedarfs gibt es immer weniger Handlungswissen, eine allgemeine Desorientierung ist die
Folge. Diese Situation sollte eine Herausforderung an die Wissensorganisation sein. Bisher
war sie vor allem mit der Bereitstellung von Literatur befa�t, oder, etwas �berspitzt
formuliert: die Ver�ffentlichungen wurden klassifiziert und geordnet, um die Unordnung in
den Ver�ffentlichungen, um die sogenannte Informationskrise, hat man sich dagegen wenig
gek�mmert. Angesichts der dr�ngenden Probleme unserer Zeit, f�r die sich offenbar
niemand so recht zust�ndig f�hlt, 2) sollte diese einseitige Ausrichtung aufgegeben
werden. So verstanden, umfa�t Wissensorganisation einzelwissenschaftliche Aktivit�ten in
Disziplinen, die sich mit dem Erzeugen, Darstellen sowie Be- und Verarbeiten von Wissen
besch�ftigen, einschlie�lich derjenigen, die hierf�r Hilfestellung leisten; hinzu
kommen fach�bergreifende methodische Themen und Verbindungen zur Erkenntnistheorie und zu
den kognitiven Wissenschaften. Aufgabe der Gesellschaft f�r Wissensorganisation sollte es
sein, die verschiedenen Aktivit�ten der Einzelgebiete zu koordinieren.
Wenn von einer Ressourcenknappheit die Rede ist, denkt man
an Rohstoffe und Energie. Da� es zum �berleben auch geistiger Ressourcen bedarf, ist
bisher �bersehen worden. Ebenso wie in anderen Bereichen, so leben wir auch hier auf
Kosten der Zukunft: Wir vermehren, aber bereichern nicht; wir schaffen keine neue
Tradition, sondern verstellen nachkommenden Generationen durch unseren Gedankenm�ll den
Zugang zur alten. Es mu� bald etwas geschehen; so wie bisher kann es nicht mehr (lange)
weitergehen.
1 CARREL a.a.O., 58f.
2 Wissensorganisation ist ein Stiefkind der Forschung. W�hrend in den
europ�ischen Forschungsprojekten RACE und ESPRIT im gro�en Stil die Entwicklung von
neuen, die Nachrichtenflut weiter forcierenden Kommunikationstechnologien gef�rdert wird,
scheint es gegenw�rtig kein Projekt zu geben, das sich mit den Folgen der Nachrichtenflut
auseinandersetzte; die Deutsche Forschungsgemeinschaft betreut jedenfalls nach eigenen
Angaben kein solches Projekt. Die gesellschaftliche Bedeutung dieser Problematik ist
offensichtlich noch gar nicht bewu�t geworden.
Fassung vom 20.01.94
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