Internationale Gesellschaft f�r Wissensorganisation (ISKO) isko.gif (7855 Byte)(Link zur Int. ISKO)
                                   
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G. Rahmstorf: Proben aus dem Wissensmeer

hierzu Kommentar von Umstaetter


Eine interessante Quelle fuer unsere Diskussion ueber Wissen und
Scientographie ist das Tutorium ueber forschungsorientierte
Wissenschaftstheorie von Herrn Jaenecke. Es ist im Band der 5. Tagung
der deutschen ISKO-Sektion, die in Berlin 1997 stattfand, abgedruckt.
Ich fand den Text sehr anregend. Es ist ein eigenstaendiger Versuch, die
Wissenschaftlichkeit des systematischen Arbeitens in der Forschung durch
methodische Prinzipien zu begruenden. Das wird einerseits in strikter
und disziplinierter Form vorgetragen, anderersaeits aber auch durch eine
Reihe von interessanten Zitaten aus Werken von Leibniz, Descartes u. a.
historisch ergaenzt und belebt. Ich moechte aber hier auf kritische
Punkte hinweisen, zumal mich Herr Jaenecke selbst dazu aufgefordert hat.
Ein Punkt unserer Diskussion ist die Frage nach den Einheiten
(Bausteinen) des Wissens. Die Zerlegbarkeit des Wissens wird in der
Praxis tagtaeglich bewiesen. Denken wir nur an Lehrplaene,
Lehreinheiten, Pruefungsfragen, Lehrbuchtexte, enzyklopaedische Artikel
usw. Dazu enthaelt das Tutorium folgendes Leibnizzitat:
"Den ganzen Koerper der Wissenschaften kann man mit dem Ozean
vergleichen, der ueberall stetig und ohne Unterbrechung oder Einteilung
ist, wenn auch die Menschen in ihm Teile entdecken und ihnen Namen geben
nach ihrer Bequemlichkeit."
Ist hier der Koerper der Wissenschaften oder doch eigentlich der Koerper
des Wissens gemeint? Ich nehme an, dass Leibniz hier das Wissen meinte.
Das Bild vom Ozean unterstuetzt die Holisten ebenso wie die
Zergliederer. Die Gegenueberstellung dieser beiden Positionen wird oft
mit polemischer Absicht verbunden. Der Gegensatz loest sich bei naeherer
Betrachtung auf. Selbst wenn ich das Ganze nicht aus den Augen verlieren
moechte, muss ich doch die Teile unterscheiden, beschreiben und messen
koennen. Wenn ich das Teil studiere, kann ich gerade auch seine Funktion
im Ganzen beschreiben. Wenn ich also das Wissensmeer vor mir habe, kann
ich dennoch an bestimmten Stellen Wasserproben von einem bestimmten
Volumen nehmen und das, was da drin ist, nach bestimmten Eigenschaften
untersuchen.
Man muss ja nicht alles messen wollen. Warum sollte man Wissen messen?
Vielleicht um Textbestaende, die relativ grosse Wissensmengen mit
Substanz vermitteln, von weniger ergiebigen Texten trennen zu koennen.
Aber da ist bisher kein ernsthafter Ansatz erkennbar, um solche
Erkennungsleistungen nach bestimmten Kriterien in verlaesslicher Weise
durch Algorithmen durchfuehren zu koennen. Das Vorhaben ist im Grunde
auch gefaehrlich. Vielleicht tun wir ja gut daran, irgendetwas noch dem
Urteil des Einzelmenschen zu ueberlassen. Obendrein ist Wissen und
Wissensbewertung staendig im Fluss: die unbeachteten utopischen
Vorschlaege frueherer Publikationen werden irgendwann einmal
verwirklicht und bestimmen unser Leben. Aber es gibt Gruende, die Frage
nach der qualitativen und quantitativen Beschreibung des Wissens
voranzubringen. Dazu zaehlen: die aktuelle Stroemung des
"Wissensmanagements" in den Firmen, die weit verbreitete Gleichsetzung
von Wissen mit Fachtexten und nicht zuletzt die anscheinend ungebrochen
grosse Beliebtheit der Bibliometrie. Das Zaehlen und Messen von/in
Texten fuehrt zu irrefuehrenden Ergebnissen, wenn man sie als Ergebnisse
ueber Wissen versteht, da Texte als Darstellungsmittel von Wissen in
einem hohen Mass bezueglich ihres Wissensgehaltes nur Wiederholungen
bzw. Darstellungsvarianten von Bruchstuecken eines vor der Publikation
schon bestehenden Wissensbestandes sind.
Zurueck zum Tutorium. Manche Urteile sind angreifbar: wie Jaenecke die
Notwendigkeit begruendet, dass die Wissenschaftstheorie einheitlich sein
muesse (S. 288), kann ich nicht nachvollziehen. Dass empirische Themen
nicht zum Aufgabengebiet der Wissenschaftstheorie gehoeren sollen (S.
287), die Gewinnung von empirischen Daten aber zu den Hauptaufgaben der
Forschung zaehlen soll, scheint mir widerspruechlich.
Kritischer ist fuer mich, dass die Frage, was Wissen ist, nicht klar
gestellt und beantwortet wird. Das zeigt sich an dem Kapitel ueber die
Darstellung des Wissens (S. 290-293). Darstellung ist fuer mich eine
3-stellige oder 4-stellige Beziehung:
1. Der Forscher F stellt das Wissen W durch das Zeichen Z dar. Oder:
2. Der Forscher F stellt das Wissen W durch das Zeichen z aus dem
Zeichensystem S dar.
Was ist das Wissen W? Die Terminologie im Tutorium wechselt: sind es
Erfahrungen, Inhalte, Gedanken, Dinge? Man kann die Liste der Woerter
noch ergaenzen durch Benennungen, die in unserer Diskussion hier
verwendet wurden: Information, Sachverhalt, Beobachtung u. a.
Wenn ich Zeuge eines Ereignisses werde, erwerbe ich das Wissen ueber
dieses Ereignis in dem Augenblick, in dem ich es sehe, hoere oder
anderweitig wahrnehme. Dieses Wissen ist da, noch bevor ich das Ereignis
in Protokollsaetzen meiner Sprache als geschriebenen Text dargestellt
habe. Mit dieser Formulierung wird das subjektive Wissen zu
objektiviertem Wissen. Vorher war es etwas, was zur Kognition zaehlt,
nachher ist es ein Text Z einer natuerlichen Sprache oder auch eines
kuenstlichen Zeichensystems S, und zwar als Ergebnis eines
Darstellungsprozesses. Das Ergebnis ist etwas Objektives, das im
Gegensatz zum subjektiven Wissen intersubjektiv beobachtet werden kann.
Wissenstheorie ist nicht deckungsgleich mit Wissenschafttheorie.
Wissenschaftstheorie betrachtet wohl mehr die Wissenschaftlichkeit des
Wissens. Aber auch das wissenschaftlich Dargestellte ist Wissen. Zur
Wissenstheorie gehoert fuer mich die Kognition, wenn man nicht nur das
objektivierte Wissen, sondern auch das "private" subjektive Wissen des
Einzelnen zum Untersuchungsgegenstand zaehlt. Und bei dem subjektiven
Wissen muss man anfangen, weil das objektivierte Wissen konkret immer
schon textuell oder anders dargestellt ist. Man kann allenfalls von
allen gelesenen Texten abstrahierend eine dritte Welt postulieren, in
der das Wissen, das in den verschiedenen Texten dargestellt wird, in
einer sprachfreien (sprachinvarianten) Form redundanzfrei existiert.
Dazu noch ein Beispiel: die Relativitaetstheorie existierte schon einige
Zeit "im Kopf" von Einstein, bevor dieser grosse Physiker seine Theorie
in einem deutschsprachigen Text formulierte. In dem Zeitraum von der
Entdeckung dieser Theorie bis zu ihrer Formulierung existierte die
Relativitaetstheorie nur als subjektives Wissen. Es gab keine
Vertextung. Die Theorie gehoerte damit auch nicht einem abstrakten
Wissensbestand einer dritten Welt an. Schon bald nach der Publikation
gab es vielerlei Texte, die die Theorie lehrbuchhaft in
unterschiedlicher Form wiedergaben, sie ausbauten, sie in Beziehung zu
anderen Fragen setzen usw. Das waren ganz normale, redundanzerzeugende
Folgen, die von neu publiziertem Wissen ausgehen. Natuerlich hat es eine
Wissenschaftstheorie, die beim subjektiven Wissen ansetzt, schwer. Wie
soll man das subjektive Wissen beschreiben? Das objektivierte Wissen
kann zumindest leichter auf seinen methodisch korrekten Aufbau
untersucht werden, indem man konkrete Texte untersucht. UEbrigens war
die Relativitaetstheorie schon hochkaraetiges Wissen, als ihre
empirischen Vorhersagen noch nicht durch Messungen bestaetigt waren. Und
noch eine Anmerkung: Es ist fraglich, ob Einstein diese Theorie strikt
methodisch gefunden hat. Es wird ja immer wieder berichtet, dass
schoepferische Menschen ihre "ploetzlich" zustandekommenden Erkenntnisse
als Eingebungen empfinden.
Das Ergebnis der Wissensdarstellung ist nicht nur abhaengig von dem
Wissen W und von dem Forscher F, sondern auch von dem Zeichensystem S.
Wenn dann die Frage gestellt wird, wie das Zeichensystem (die formale
Sprache) aufgebaut sein sollte, mit dem das subjektive Wissen
dargestellt werden soll, dann setzt das doch voraus, dass ich dieses
Wissen irgendwie schon unterscheiden und charakterisieren kann. Vor der
Konstruktion einer kuenstlichen Sprache muss ich schon die Kategorien
des Wissens kennen. In der Grundschule wurde uns beigebracht, dass es
Menschen, Dinge, Handlungen, Eigenschaften usw. in der Welt gibt und
dass die Sprache dafuer Eigennamen, Dingwoerter, Tuwoerter und
Eigenschaftswoerter bereitstellt. Die Linguistik hat natuerlich sehr
viel differenziertere Grammatiken entwickelt und sich bemueht, dazu auch
die formale Semantik anzugeben. Dabei finden Logiksprachen Verwendung.
Die Logiksprachen haben ihr eigenes Kategoriensystem: ein Weltmodell mit
Objekten, Mengen, Relationen und Logiksprachen mit Objektkonstanten,
Praedikaten, Aussagenjunktoren, Quantoren, Variablen usw. Diese
Entwicklungen sind schon von Leibniz ansatzweise gesehen werden. Das
Tutorium geht darauf naeher ein. Der Ansatz der formalen Sprachen wird
dort auch dargestellt. Die Rolle der Syntax erklaert. Dennoch muss man
darauf hinweisen, dass die Grundentscheidungen ueber das Wissen durch
"vorsprachliche" Kategorisierungen getroffen werden, z. B. durch solche
scheinbar trivialen Fragen wie: muss ich Allgemeinbegriffe von
Individualbegriffen unterscheiden? Wie gross kann die Stelligkeit von
Allgemeinbegriffen werden: 1, 4 oder n? Ist eine Erfahrung, die ich
visuell gemacht habe, ein anderes Wissen als eine Erfahrung, die ich
durch Nachdenken gemacht habe? Zum Wissen zaehlt nicht nur das, von dem
das Individuum glaubt, dass es in der Welt der Fall ist, sondern zum
Wissen zaehlen auch die verschiedenen sinnlichen und mentalen
Erfahrungsweisen, ueber die das Individuum die Welt wahrnimmt und
aufnimmt.
Die Darstellungsprinzipien, die das Tutorium behandelt, sind u. a.
Darstellungstreue, Primitive, Homomorphie. Hier muesste man sich auf das
subjektive Wissen beziehen, das darzustellen ist. Das setzt voraus, dass
man in der Wissenstheorie das Subjekt einfuehrt, das einer Aussenwelt
gegenuebersteht, und das als Forscher F den Akt der Wissensdarstellung
vollzieht, indem es seine natuerliche Sprache oder eine Kunstsprache
verwendet, um seine Erfahrungen, Wahrnehmungen, Begriffe (Gedanken,
Inhalte), Denkakte (Propositionen, Schluesse) zu formulieren. Man baut
also ein komplexes Modell, in dem Wahrnehmungen, Inhalte, Denkakte,
Sprechakte usw. als Gedaechtniszustaende und als Operationen beschrieben
werden. Damit sind wir wieder voll in der Kognitionswissenschaft und in
ihrer Anwendung in der Informatik.
Unser Thema hat zwei Seiten: die kognitive Seite des Wissens und das
objektivierte Wissen. Beim objektivierten Wissen interessiert uns z. B.,
wie wir die wissenschaftlichen Texte (und Bilder!) eines Fachgebietes so
zusammenfuehren koennen, dass ein moeglichst redundanzfreier, optimal
recherchierbarer Wissensspeicher im Computer oder im Internet aufgebaut
wird. Noch ist das Utopie. Man muss mit den einfachen Dingen anfangen.
Der Weg dahin fuehrt wohl zunaechst ueber den Aufbau von
Begriffssystemen. Aus der Untersuchung der Kognition koennen wir viel
ueber die Wissensformen und Wissenprimitive lernen und das zur
Darstellung des Wissens in objektivierter Form anwenden. Denn so wenig
wir ueber das Gedaechtnis wissen, eines scheint klar: das Hirn speichert
unser Wissen nicht so hirnlos in Form von Texten wie das im Internet
derzeit noch erfolgt.
Also als Resuemee: das Tutorium von Jaenecke lesen, aber bitte auch
kritisch an der Weiterentwicklung arbeiten! Bis zum Druck des naechsten
Tagungsbandes ist nicht mehr allzu viel Zeit!

Prof. Dr. Gerhard Rahmstorf
Oberer Rainweg 57
D-69118 Heidelberg
Tel. 06221-808129
Fax 06221-802682

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15 Apr 1999