Internationale Gesellschaft f�r Wissensorganisation (ISKO) isko.gif (7855 Byte)(Link zur Int. ISKO)
                                   
D e u t s c h e  S e k t i o n                                       

|^| Start
^ Kapitel
 

 

 

Kommentare von Peter Jaenecke
zum Beitrag ‘Kognition, Szientographie, Internet-o-metrie’ von Gerhard Rahmstorf:

Rahmstorf: Wir leben in der Wissensgesellschaft. Das aktuelle Thema in der Wirtschaft ist das Wissens-management. Die Politiker wollen ein g�nstiges Klima f�r Bildung, Wissenskommunikation und Innovationen schaffen. Sind das alles nur Schlagworte? Befinden wir uns gerade auf dem H�hepunkt einer kurzfristigen Mode, die von den Fachjournalisten in den Medien gepflegt wird, oder vollzieht sich mit dem Wissen, das seit Jahrhunderten gewonnen, gesammelt und vermehrt wird, gerade jetzt etwas ganz Neues? Das Gro�artige an dem Thema Wissen ist nicht das Internet und die rasante Entwicklung der Telekommunikation und Computertechnik. Was mich erstaunt, ist, da� wir trotz aller Fort-schritte in der kognitiven Psychologie und den Neurowissenschaften nicht verstehen, was un-ser subjektives Wissen eigentlich ist und wie es in unserem Ged�chtnis codiert ist.
Jaenecke: Das ist seit langem bekannt, es wird nur nicht zur Kenntnis genommen: s. z.B. BADDELEY, Die Psychologie des Ged�chtnisses, Klett-Cotta, Stuttgart 1979, sowie die dort angebene Literatur.

Rahmstorf: Damit h�ngt auch zusammen, da� wir kein Modell von dem objektivierten sprachinvarianten Wissen haben, von dem die einzelnen Texte in dieser oder jener Sprache jeweils nur Ausschnitte oder Bruchst�cke vermitteln.
Jaenecke: Wenn es richtig ist, da� die Form vom Inhalt abh�ngt, also nicht jeder Inhalt durch jede Sprache ad�quat ausgedr�ckt werden kann, dann ist 'sprachinvariantes Wissen' ein ziemlich problematischer Begriff, jedenfalls kann er sich nur auf spezielles Wissen beziehen, bei dem das Darstellungsmedium eine untergeordnete Bedeutung hat.

Rahmstorf: Wissenstheorie m��te beschreiben k�nnen, was Wissen ist.
Jaenecke: Das findet man schon bei LEIBNIZ: Vorstellungen/Begriffe, die in Beziehung zueinander gesetzt wurden; danach scheiden Begriffe und Relationen als Wissenseinheiten aus.

Rahmstorf: Dazu m��te man sagen k�nnen, woraus sich das Gesamtwissen zusammensetzt und in welcher Weise bestehendes Wissen durch neues Wissen erweitert wird.
Jaenecke: Gedanken hierzu findet man bereits bei LEIBNIZ in seinem Dialogus (1677). s. unten: Theorie.

Rahmstorf: Logiker setzten mit dem Begriff oder mit dem Urteil eine Basiseinheit des Wissens an den Anfang. Linguisten versuchen, von der Grammatik der Ein-zelsprachen ausgehend, aus S�tzen so etwas wie sprachinvariante Propositionen zu abstrahie-ren und als Wissenseinheiten zu postulieren. Von der Psychologie kommend, ist man geneigt, die durch Wahrnehmung unterscheidbaren Gegenst�nde und die mit diesen Gegenstandsrepr�-sentationen verbundenen Kategorisierungen, als Grundeinheiten des Wissens zu betrachten. Denken, Sprache, Wahrnehmung und m�glicherweise weitere Geistest�tigkeiten m��ten da-her in einer Wissenstheorie ber�cksichtigt werden.
Jaenecke: Die obigen Ansichten gehen auf unser logik-zentriertes, abendl�ndisches Denken zur�ck, wonach alles auf elementare Einheiten zur�ckzuf�hren ist. Das, was man als Grundeinheit ansehen kann, ist jedoch untrennbar mit dem verbunden, was man als Ganzes ansieht. Was z.B. sind die Grundeinheiten eines Hauses? Sind es T�ren, Fenster, oder Zimmer, oder gar Ziegelsteine? Ist es sinnvoll, alle diese Dinge zusammenzuwerfen, oder etwa zu behaupten, nur die Ziegelsteine sind die wahren Grundeinheiten eines Hauses?

Rahmstorf: Eine solche Beschreibung der allgemeinen Eigenschaften von Wissen beliebiger Art, kurz Szientographie genannt, ist nicht dasselbe wie Wissenschaftstheorie.
Jaenecke: Die obigen Ansichten �ber Wissen charakterisieren keinesfalls allgemeine Eigenschaften des Wissen; es sind vielmehr, wie selbst bemerkt, engbegrenzte einzelwissenschaftliche Sichtweisen; s. unten Theorie.

Rahmstorf: Wissenschaftstheorie befa�t sich mit der Erkenntnis von Tatsachen, mit den Methoden der Erkennens und Schlie-�ens, dem Aufbau von Theorien, den Methoden, die Wahrheit sicherstellen, und mit situativen und gesellschaftlichen Faktoren, die die Prozesse von Forschung und Wissenschaft bestim-men. Was Wissen ist, wird dabei nicht explizit gefragt.
Jaenecke: Das h�ngt von der jeweiligen Richtung ab. F�r einen "Logiker", der Wissen als etwas betrachtet, das einen Wahrheitswert besitzt, ist solch eine Frage �berfl�ssig. F�r andere Autoren, z.B. SEIFFERT, Einf�hrung in die Wissenschaftstheorie, Bde. 1-3, Beck, M�nchen 1991 (9./11. Auflage), ist die Sache viel zu komplex, als da� sie sich unter einen einzigen Begriff, n�mlich 'Wissen', bringen lie�e. Hier spielen dann eben auch die Ethik (Normen) oder hermeneutische Gesichtspunkte eine Rolle.

Rahmstorf: Der ganze Ansatz der Wissenschafts-theorie ist durch die formale Logik gepr�gt und damit auf einen Aspekt eingeengt.
Jaenecke: Das trifft allenfalls auf eine bestimmte Richtung zu, aber auch nur in einem eingeschr�nkten Ma�e. Gegenbeispiel: SEIFFERT, s.oben.

Rahmstorf: Wissen wird nur in bestimmten Gebieten und nur im fortgeschrittenen Stadium in Gestalt von formalisierten und quantifizierten Theorien dargestellt.
Jaenecke: Das kann man so nicht sagen. Die Schwierigkeiten r�hren von der Auffassung her, es g�be elementare Wissenseinheiten. Eine Theorie gilt als eine systematische Darstellung eines Sachgebietes; zwischen einzelnen Begriffen und einer Theorie besteht ein eben solcher Unterschied wie zwischen einem Haufen Baumaterialien und einem Geb�ude. Nun kann man nat�rlich die Bauelemente ebenfalls als Wissenselemente ansehen, aber man darf dabei nicht unterschlagen, da� es "h�heres" Wissen gibt, das nicht in solchen Bauelementen selbst enthalten ist, sondern erst durch eine systematische Kombination der Bauteile zum Ausdruck gebracht werden kann; um im Bilde zu bleiben: es ist die Architektur. Ich halte daf�r, da� Bauelemente erst durch die Architektur ihre volle Bedeutung bekommen - ein Strebepfleiler ist zun�chst blo� ein Pfeiler unter anderen; seine eigentliche Bedeutung erh�lt er erst durch seine Stellung in einem gotischen Bauwerk. 'Wissenseinheit' ist daher f�r mich ein sehr problematischer Begriff.

Rahmstorf: Zum Wissen geh�rt auch das Nicht-formalisierbare, das, was nur vage fa�bar ist und das, was wir gar nicht zum Thema von Wis-senschaft machen.
Jaenecke: 'Nicht-formalisierbar' sollte man nicht mit 'vage' gleichsetzen. Im �brigen ist mit 'Wissen' immer die Vorstellung von 'wahr' verbunden, und zwar nicht nur im logischen Sinn, sondern auch im Sinne von 'richtig', 'brauchbar' usw. Dies f�hrt notwendig zu dem Problem, diese Eigenschaften auch nachweisen zu m�ssen. Was der eine f�r vages Wissen h�lt, ist f�r den anderen einfach nur Unsinn. Wie kommt man hier zu einer Entscheidung? Wo liegt die Grenze zur Esoterik und Kabbala?

Rahmstorf: Wir k�nnen Wissen bisher nicht quantifizieren. Texte lassen sich messen, sind aber nicht mit Wissen gleichsetzbar. Voraussetzung f�r die Quantifizierung von Wissen ist die Beschreibbarkeit von Wissen und damit die Identifizierung von Wissenseinheiten bzw. Ma�einheiten f�r Wissen.
Jaenecke: Es gibt aber auch Auffassungen, die Wissen untrennbar mit menschlichem Handeln verbunden sehen; Ma�einheiten f�r Wissen scheinen damit nicht vereinbar zu sein.

Rahmstorf: Praxis kommt ohne Theorie nicht aus. Die Theorie der Szientographie sollte helfen, zu an-wendbaren Ergebnissen zu kommen. Heute ist Innovationsf�rderung gefragt. Daher sollte ein Ergebnis darin bestehen, da� wir die Grenze zwischen unseren Erkenntnissen und unserem Nichtwissen viel expliziter als bisher angeben k�nnen. Nur wer die L�cken des Wissens kennt, kann gezielt an Erkenntnisgewinn arbeiten. Forschungsgrenzen m�ssen abfragbar ge-macht werden k�nnen. Das aber hei�t, da� nicht nur die Einzelheiten des Wissens an der vor-dersten Front der Forschung in den verschiedenen Fachgebieten vertextet, in der jeweiligen Sprache formuliert und dokumentiert werden, sondern auch, da� die Leerstellen vor der Wis-sensgrenze auffindbar gemacht werden m�ssen.
Jaenecke: Wie nun, wenn die Grenze unseres Erkenntnisverm�gens gerade darin besteht, solch eine Grenze nicht angeben zu k�nnen? Es gibt M�glichkeiten, im Zuge von theoriebildenden Ma�nahmen L�cken zu erkennen: Inkonsistenzen, Widerspr�che, fehlende Teile und vor allem immer wieder fest in der Tradition verankerte Unsinne. Grunds�tzlich ist es jedoch so, da� die G�ltigkeitsgrenzen einer erfahrungswissenschaft- Theorie nicht mit den Mitteln dieser Theorie formuliert werden k�nnen und daher verborgen bleiben (G�DELscher Unvollst�ndigkeitssatz auf die Erfahrungswissenschaften bezogen).

Rahmstorf: Zu einem positiven Klima f�r Innovationen geh�rt nat�rlich auch eine fundierte Sachkenntnis der jeweiligen Materie, zu der Entdeckungen und Erfindungen beigesteuert werden sollen. Diese Sachkenntnis ist eine Bildung in einem Spezialgebiet. Sie besteht nicht nur im Kennen von einzelnen Sachverhalten, sondern im Verstehen von Zusammenh�ngen, Abh�ngigkeiten und anderen Beziehungen zwischen den Gegenst�nden des Fachgebietes.
Jaenecke: Das eben ist eine Aufgabe, die die Theorien erf�llen.

Rahmstorf: Wissensorganisation f�r Forscher und Entwicklungsabteilungen mu� daher das Orientierungswissen der Speziali-sten unterst�tzen. Retrievalsysteme sollten Rechercheergebnisse nicht nur in Listenform aus-spucken, sondern gefundene Information und gefundene Wissensl�cken in einer systemati-schen Ordnung pr�sentieren.
Jaenecke: Eine Theorie ist eine systematische Darstellung eines Sachgebietes, geleitet von fachinternen Gesichtspunkten. Sie ist strikt zu unterscheiden von einer systematischen Klassifikation, hervorgegangen aus fachexternen Vorstellungen. Es gibt hier abschreckende Beispiele. Systematiken k�nnen sehr hilfreich sein, insbesondere auf solchen Gebieten, die theoretisch schwach vertreten sind; aber sie k�nnen keine universelle G�ltigkeit beanspruchen. Im �brigen stellt sich auch bei ihnen das Rechtfertigungsproblem: wie verhindert man, da� Systematiken systematisch in die Irre f�hren oder hemmend normativ wirken?

Rahmstorf: Etwas, was schon oft totgesagt wurde, die systematische Klassi-fikation der Bibliothekare sowie die Thesauren und andere inhaltliche Orientierungsmittel, kommen in methodisch weiterentwickelter Form wieder zu neuem Leben. Telekommunikation, Datenbanken, Webtechnologie und Computer sind heute Voraussetzun-gen des wissenschaftlichen und technischen Arbeitens. Entscheidend ist aber jetzt, da� diese Techniken durch Methoden und Programme der Wissensorganisation so erg�nzt werden, da� die Effizienz des Arbeitens und damit auch die Kreativit�t der Wissensgesellschaft weiter vorangebracht wird. Damit kommen wir zur Modestr�mung des Wissensmanagements zur�ck. Auff�llig ist, da� dieses Thema entweder aus der Sicht der Betriebsorgansisatoren oder aus der Sicht der Soft-warespezialisten bzw. der Wirtschaftsinformatiker behandelt wird. Mit dem Thema lassen sich hochkar�tige Seminare f�r Manager f�llen. Eine Fachgesellschaft, die genau das Wis-sensthema zu ihrer Sache macht oder doch machen sollte, ist die ISKO. Eigentlich m��ten wir sehr gefragt sein. Vielleicht arbeiten wir zu bescheiden im Hintergrund.
Jaenecke: Den wahren Grund hat ein ber�hmter Politiker einmal so formuliert: "Die Schwierigkeit ist das Problem"!

Rahmstorf: Versuchen wir also die Br�cke zu schlagen von der Szientographie �ber die praktische Wissensorganisation zur Mitentwicklung von Produkten und zur Beratung der Wirtschaft.
Jaenecke: Dem kann ich nur zustimmen; aber hinsichtlich der Realisierung bin ich sehr skeptisch geworden: Es ist ein enormer Arbeitsaufwand erforderlich, der wohl am Ende von niemanden honoriert wird.
Dennoch m�chte ich folgendes raten: Wer am eigenen Leibe die T�cken der Wissensorganisation erfahren m�chte, sollte sich ein Gebiet vornehmen und versuchen, 100 oder mehr Seiten Text auf 10 Seiten zu komprimieren, ohne inhaltlichen Verlust. Diese Arbeit ist wenig spektakul�r, daf�r au�erordentlich verdienstvoll und lehrreich. Manche philosophischen Probleme werden in ihrem Verlauf erheblich an Bedeutung verlieren. Das Ergebnis dagegen wird vielseitig verwendbar sein, z.B. wird es die computer- gerechte Aufbereitung des Stoffes erleichtern.

 

Peter Jaenecke , 8 Mar 1999
[email protected]