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Das Wahlstatistikgesetz vom 21. Mai 1999 - Entstehungsgeschichte und Hintergründe

1. Die Neuregelung der repräsentativen Wahlstatistik durch das Wahlstatistikgesetz

Am 1. Juni 1999 ist das Gesetz über die allgemeine und die repräsentative Wahlstatistik bei der Wahl zum Deutschen Bundestag und bei der Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland (Wahlstatistikgesetz WStatG) vom 21. Mai 1999 (BGBl. I S.1023) in Kraft getreten, das bereits kurze Zeit später bei der 5. Direktwahl des Europäischen Parlaments in der Bundesrepublik Deutschland am 13. Juni 1999 erstmals zur Anwendung kam.

Im Gegensatz zur allgemeinen Wahlstatistik, die lediglich die von den Wahlorganen festgestellten Wahlergebnisse und die dort angefallenen Informationen (insbesondere Zahl der Wahlberechtigten, der Wähler, der gültigen und ungültigen Stimmen für die einzelnen Wahlvorschläge gegliedert nach Ländern, Wahlkreisen, kreisfreien Städten bzw. Kreisen, Gemeinden und Wahlbezirken sowie Angaben zu den einzelnen Wahlbewerbern) dokumentiert, werden mit der repräsentativen Wahlstatistik die Wahlberechtigten, die Wahlbeteiligung sowie das Wählervotum nach Alter und Geschlecht der Wähler in ausgewählten Stichprobenwahlbezirken untersucht. Die Auswertung der Stimmabgabe nach Geschlecht und Alter wird ermöglicht, indem die Wahlvorstände in den ausgewählten Wahlbezirken dem Wähler jeweils Stimmzettel mit dem passenden Unterscheidungsaufdruck ausgeben (Frau/Mann/Geburtsjahresgruppe). Für die repräsentative Wahlstatistik der Europawahl 1999 wurden von den insgesamt rund 80 000 Wahlbezirken 2589 (Statistik der Wahlbeteiligung) bzw. 2715 (Statistik der Stimmabgabe) Wahlbezirke ausgewählt. 3,7% der Wahlberechtigten (von insgesamt 60,8 Mio.) waren in die Statistik der Wahlbeteiligung und 3,9% der Wähler (von insgesamt 27,5 Mio.) in die Statistik der Stimmabgabe einbezogen.

Die Regelungen des neuen Wahlstatistikgesetzes schreiben die bisher bei der Durchführung der repräsentativen Wahlstatistik für Bundestags und Europawahlen geübte Praxis rechtsverbindlich fest und präzisieren die bislang recht allgemein gehaltenen, durch das Wahlstatistikgesetz nunmehr aufgehobenen wahlstatistischen Vorschriften des Bundeswahlgesetzes, der Bundeswahlordnung sowie des Europawahlgesetzes und der Europawahlordnung. Für das ohnehin strafrechtlich geschützte Wahlgeheimnis (vgl. z.B. §§ 107c, 203, 353b Strafgesetzbuch) werden insbesondere folgende Schutzmaßnahmen gesetzlich festgeschrieben:

  • Festlegung einer Mindestzahl von 400 Wahlberechtigten je Stichprobenwahlbezirk.
  • Zusammenfassung der Geburtsjahrgänge zu 5 Gruppen je Geschlecht, so dass keine Rückschlüsse auf das Wahlverhalten einzelner Wähler möglich sind.
  • Trennung der für die Stimmenauszählung und für die statistische Auswertung zuständigen Stellen.
  • Verbot der Zusammenführung von Wählerverzeichnissen und gekennzeichneten Stimmzetteln.
  • Strenge Zweckbindung für die Statistikstellen hinsichtlich der ihnen zur Auswertung überlassenen Wahlunterlagen.
  • Weiterhin legt das Wahlstatistikgesetz fest, dass die Wahlberechtigten der Wahlbezirke, in denen die Repräsentativerhebung durchgeführt wird, hiervon in geeigneter Weise z.B. durch öffentliche Bekanntmachung sowie Hinweis im Wahllokal unterrichtet werden.

    Mit dem Wahlstatistikgesetz von 1999 hat der Gesetzgeber einem dringenden Anliegen der Wahlforschung und der amtlichen Statistik entsprochen. Die bei Bundestagswahlen von 1953 bis 1990 sowie bei allen Europawahlen durchgeführte repräsentative Wahlstatistik gehörte zu den wichtigsten Datenquellen der empirischen Wahlforschung und wäre durch demoskopische Untersuchungen, etwa der Sozialforschungsinstitute, nicht zu ersetzen. Solche demoskopischen Untersuchungen beziehen eine wesentlich geringere Anzahl von Personen ein und können sich nur auf Angaben der befragten Personen vor und nach der Wahl, nicht aber auf die Stimmabgabe selbst stützen. Die Umfrageforschung benötigt im übrigen die Ergebnisse der repräsentativen Wahlstatistik zur methodischen Absicherung.

    2. Die Aussetzung der repräsentativen Wahlstatistik für die Bundestagswahlen 1994 und 1998

    Die Wahlgesetzgebung in der 12. und 13. Wahlperiode des Deutschen Bundestages ließ ein Ende der repräsentativen Wahlstatistik befürchten:

    Für Bundestagswahlen hatte der Gesetzgeber die repräsentative Wahlstatistik nämlich 1994 überraschend und kurzfristig kurz vor der Wahl zum 13. Deutschen Bundestag ausgesetzt (Gesetz zur Aussetzung der Vorschriften über die repräsentative Wahlstatistik für die Wahl zum 13. Deutschen Bundestag vom 28. September 1994, BGBl. 1 S. 2734). Die Gesetzesbegründung verweist auf nicht näher erläuterte Bedenken, „mit einem nach Alter und Geschlecht gekennzeichneten Stimmzettel an der Wahl teilzunehmen“ (Bundestags-Drucksache 12/8152, S. 3). Der Bundesrat hat diese Bedenken seinerzeit nicht geteilt. Der Bundesrat wollte an der repräsentativen Wahlstatistik festhalten, weil sich nur so zuverlässige Erkenntnisse über das Wahlverhalten nach Alter und Geschlecht sowie über die Gruppe der Nichtwähler gewinnen und den Wahlforschungsinstituten Grundlagen für Wahlforschung und Hochrechnungen liefern ließen (Entschließung vom 23. September 1994, Bundesrats-Drucksache 841/94 (Beschluss)). Auch der Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft und Vertreter von Forschungsinstituten haben in der Folgezeit die Notwendigkeit einer repräsentativen Wahlstatistik unterstrichen und sich gegen das Aussetzungsgesetz ausgesprochen. In der oben erwähnten Entschließung hat der Bundesrat nicht nur das erhebliche öffentliche Interesse an der repräsentativen Wahlstatistik betont, sondern auch den Deutschen Bundestag und die Bundesregierung aufgefordert, unverzüglich nach der Bundestagswahl 1994 Vorschläge für die künftige Ausgestaltung der repräsentativen Wahlstatistik vorzulegen.

    In der 13. Wahlperiode ist es jedoch nicht zu entsprechenden Gesetzesiniativen gekommen. Vielmehr brachten die Bundestagsfraktionen von CDU/CSU und F.D.P. einen Gesetzentwurf zur Abschaffung der repräsentativen Wahlstatistik bei Bundestags und Europawahlen (Bundestags-Drucksache 13/10533) ein, der am 30. April 1998 im Deutschen Bundestag in erster Lesung beraten wurde. Im allgemeinen Teil der Begründung zu diesem Gesetzentwurf hieß es, die repräsentative Wahlstatistik diene nicht den Interessen des Staates, ihre Abschaffung stelle einen Beitrag zur angestrebten Reduzierung amtlicher Statistiken im Rahmen des Projekts „Schlanker Staat“ dar. Damit wurde nicht nur die erhebliche Bedeutung der repräsentativen Wahlstatistik als Datenquelle für Wahlanalysen von Parteien, Politik, Behörden, Presse, Wissenschaft und Öffentlichkeit, sondern auch der gesetzliche Auftrag der Bundesstatistik, nämlich gesellschaftliche, wirtschaftliche und ökologische Zusammenhänge für Bund, Länder und Gemeinden sowie für Gesellschaft, Wissenschaft und Forschung aufzuschlüsseln, verkannt. Statistische Basisdaten objektiv und neutral von den Statistischen Ämtern von Bund, Ländern und Gemeinden erhoben und veröffentlicht sind als „informationelle Infrastruktur“ multifunktional, das heißt, sie dienen ganz überwiegend sowohl staatlichen als auch gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und privaten Interessen.

    Der Gesetzentwurf wurde deshalb zu Recht nahezu einhellig von den damaligen Oppositionsparteien im Deutschen Bundestag sowie von Wahlforschern und Statistikern abgelehnt. Nachdem der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend bei einer gutachterlichen Beratung mit den Stimmen der Fraktionen der SPD, der GRÜNEN und der Gruppe der PDS bei Enthaltung der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. empfohlen hatte, die damals bestehenden Regelungen zur repräsentativen Wahlstatistik beizubehalten, brachten die Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. bei der zweiten Lesung des Gesetzentwurfs einen Änderungsantrag zur erneuten Aussetzung der repräsentativen Wahlstatistik ein. Den so veränderten Gesetzentwurf hat der Deutsche Bundestag am 25. Juni 1998 beschlossen. Der Bundesrat hat dem Entwurf am 10. Juli 1998 zugestimmt, so dass das Gesetz über die Aussetzung der Vorschriften über die repräsentative Wahlstatistik für die Wahl zum 14. Deutschen Bundestag vom 25. August 1998 (BGBl. I S. 2430) noch vor der Bundestagswahl am 27. September 1998 in Kraft treten konnte. In einer erläuternden Entschließung (Bundesrats-Drucksache 661/98 (Beschluss)) begründet der Bundesrat seine Zustimmung wie schon vor der Bundestagswahl 1994 damit, dass die Vorbereitungen für die Bundestagswahl 1998 zu weit fortgeschritten seien und den Wählern und Wahlbehörden wenige Wochen vor dem Wahltag keine Ungewissheit über die Modalitäten der Stimmabgabe mehr zugemutet werden dürfe. Zugleich bekräf­tigte der Bundesrat das erhebliche öffentliche Interesse an der repräsentativen Wahlstatistik und forderte Bundestag und Bundesregierung auf, „unverzüglich eine inhaltliche Überarbeitung der bundesrechtlichen Vorschriften über die repräsentative Wahlstatistik einzuleiten und sicherzustellen, dass die Änderungen der Rechtsgrundlagen rechtzeitig vor der am 13. Juni 1999 bevorstehenden Europawahl in Kraft sind.“

    3. Die Bemühungen um eine Neuregelung der repräsentativen Wahlstatistik in der 14. Wahlperiode des Deutschen Bundestages

    Bereits kurz nach der Bundestagswahl am 27. September 1998 kam es zu einem Aufruf maßgeblicher Wahlforscher aus privaten Meinungsforschungsinstituten, des Deutschen Städtetages sowie aus Universitäten und Statistischen Ämtern für eine gesetzliche Regelung der repräsentativen Wahlstatistik an den Deutschen Bundestag. Dieser Aufruf ging maßgeblich auf eine Initiative des Wahlforschers und Staatssekretärs im Ministerium für Kultur, Jugend, Familie und Frauen des Landes Rheinland-Pfalz, Dr. Joachim Hofmann-Göttig, zurück. In ihrem Aufruf „Die amtliche Sonderauszählung nach Alter und Geschlecht ist unverzichtbar“ vom 22. Oktober 1998 wiesen die unterzeichnenden Wahlforscher insbesondere auf folgende Gesichtspunkte hin:

  • Da die repräsentative Wahlstatistik nicht auf Umfragen, sondern auf dem tatsächlichen Stimmverhalten der Wähler und einer vergleichsweise großen Stichprobe beruht, sind ihre Ergebnisse von hoher Genauigkeit. Die repräsentative Wahlstatistik ist daher unverzichtsbar, um exakte Erkenntnisse über die Wahlbeteiligung und die Parteipräferenzen nach Alter und Geschlecht zu erlangen.
  • Die repräsentative Wahlstatistik liefert unersetzliche Informationen über die Struktur der tendenziell ansteigenden Zahl der Nichtwähler sowie über Alter und Geschlecht der Wähler
  • von Parteien mit extremer politischer Ausrichtung. Bei Umfragen der Wahlforschungsinstitute wurde häufig die Erfahrung gemacht, dass sich die Anhänger solcher Parteien nicht zu ihrer Wahlentscheidung bekennen.
  • Für die politischen Parteien ist eine genaue Kenntnis ihrer demographischen Stärken und Schwächen sowie des Stimmensplittings zwischen Erst- und Zweitstimme bei Bundestagswahlen von erheblicher Bedeutung. Eine präzise Datengrundlage für derartige Wahlanalysen stellt nur die repräsentative Wahlstatistik zur Verfügung, die damit auch einen Beitrag für die politische Bildung der Öffentlichkeit leistet.
  • Eine Gefährdung des Wahlgeheimnisses und des Datenschutzes durch die repräsentative Wahlstatistik ist nicht zu befürchten.

    Dank vieler politischer Gespräche von Staatssekretär Dr. Hofmann-Göttig konnten Wahlforscher schon am Tage der Veröffentlichung ihres Aufrufs vom 22. Oktober die Eckpunkte des späteren Wahlstatistikgesetzes mit Vertretern der Bundestagsfraktionen von SPD, CDU/ CSU, GRÜNEN und F.D.P. sowie des Bundesministeriums des Innern erörtern. Auch an den weiteren Beratungen des daraufhin im Bundesministerium des Innern erarbeiteten Gesetzentwurfs zur Wahlstatistik war die Wahlforschung insbesondere durch Beiträge von Staatssekretär Dr. Hofmann-Göttig beteiligt. Dabei wurde insbesondere die Frage, wie hoch die Mindestzahl der Wahlberechtigten je ausgewähltem Wahlbezirk festgelegt werden muss, um Gefährdungen des Wahlgeheimnisses bei der Auszählung der Stimmzettel mit Unterscheidungsaufdruck durch den Wahlvorstand auszuschließen, geprüft. Wahlforscher und Statistische Ämter plädierten entsprechend dem vor Inkrafttreten des Wahlstatistikgesetzes geübten Verfahren für eine Mindestgrenze von 300 Wahlberechtigten je ausgewähltem Wahlbezirk, um sicherzustellen, dass auch ländliche Gebiete mit kleinen Wahlbezirken ausreichend in der Stichprobe für die repräsentative Wahlstatistik vertreten sind. Der Gesetzgeber wollte demgegenüber „sicher gehen“ und legte die Zahl der Wahlberechtigten je ausgewähltem Wahlbezirk auf mindestens 400 fest (§ 3 Satz 3 Wahlstatistikgesetz). Dies führt zu einer nicht unerheblichen Einschränkung bei der Stichprobenauswahl, die aber aus methodischer Sicht noch hinnehmbar erscheint.

    Die erste Lesung des Entwurfs eines Wahlstatistikgesetzes (Bundestags-Drucksache 14/ 401) im Deutschen Bundestag, der von den Fraktionen der SPD, CDU/CSU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebracht worden war, erfolgte am 22. Februar 1999. Der Deutsche Bundestag nahm den Gesetzentwurf am 25. März 1999 in einer geringfügig geänderten Fassung, der Bundesrat am 30. April 1999 an.

    Das intensive Engagement von Wahlforschem und Statistikern hat damit maßgeblich dazu beigetragen, dass die repräsentative Wahlstatistik mit dem Wahlstatistikgesetz bei Bundestagswahlen wieder aufgenommen werden konnte und noch rechtzeitig vor der Europawahl 1999 eine langfristig tragfähige Rechtsgrundlage erhalten hat.

    4. Ausblick

    Das Wahlstatistikgesetz hat sich bei der Durchführung der repräsentativen Wahlstatistik für die Europawahl 1999 bewährt, so dass grundlegende Änderungen nicht angezeigt erscheinen.

    Allerdings sieht das Wahlstatistikgesetz entsprechend der bisherigen Praxis keine Verpflichtung zur Einbeziehung der Briefwähler in die repräsentative Wahlstatistik vor. Der Anteil der Briefwähler an der Gesamtzahl der Wähler hat sich von 9,4% bei der Bundestagswahl 1990 über 13,4% bei der Bundestagswahl 1994 auf inzwischen 16,0% bei der Bundestagswahl 1998 erhöht. Vor diesem Hintergrund fordert die Wahlforschung, die Briefwähler zukünftig in die repräsentative Wahlstatistik einzubeziehen. Hier sind mehrere Verfahren denkbar, die jedoch, was Sicherung des Wahlgeheimnisses und Praktikabilität angeht, eingehend geprüft werden müssen. Diese Untersuchungen konnten vor der Europawahl 1999 nicht mehr mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt werden.

    Der Deutsche Bundestag (Bundesrats-Drucksache 207/99) und der Bundesrat (Bundesrats-Drucksache 207/99 (Beschluss)) forderten deshalb mit Entschließungen zum Wahlstatistikgesetz die Bundesregierung auf, eine Einbeziehung der Briefwahlstimmen in die repräsentative Wahlstatistik zu prüfen. Die Bundesregierung soll dem Innenausschuss des Deutschen Bundestages über das Ergebnis der Prüfung so rechtzeitig Bericht erstatten, dass noch vor der nächsten regulären Wahl auf Bundesebene darüber entschieden werden kann.

    In diesem Zusammenhang hat Staatssekretär Dr. Hofmann-Göttig ein eigenes Verfahrensmodell zur Einbeziehung der Briefwähler in die repräsentative Wahlstatistik entwickelt. Möglicherweise wird schon bei der nächsten Bundestagswahl die repräsentative Wahlstatistik mit Einschluss der Briefwähler der Wahlforschung zur Verfügung stehen.

    Präsident des Statistischen Bundesamtes Johann Hahlen, Gustav-Stresemann-Ring 11, 65189 Wiesbaden,
    [email protected]




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