Volkszählung 2001: Primärerhebung
oder Registerauszug?
Politisch scheint entschieden zu sein:
In Deutschland wird es im Jahr 2001 keine Volkszählung herkömmlicher
Form geben. Statt dessen sind Ersatzmaßnahmen in Form von
Registerauswertungen geplant. Dazu wurden vom Bund und von einigen
Ländern zwei konkurrierende Modelle entwickelt. Sie unterscheiden
sich nicht nur im geschätztem Aufwand, sondern vor allem
in ihrer vermutlichen Leistung. Gemeinsam ist ihnen, daß
für ihre sorgfältige Prüfung zu wenig Zeit bleibt:
Nach einer Übereinkunft der EU-Staaten soll ein gemeinschaftliches
Programm für Volks- und Wohnungszählungen in allen
Ländern bis zum Jahr 2001 realisiert sein.
Vor, während und nach der letzten
Volkszählung 1987 gab es eine umfangreiche Diskussion um
die Zukunft dieser Erhebung und um mögliche Alternativen
(vgl. u.a. Volkszählung 2000 - oder was sonst?,
Statistisches Bundesamt, Schriftenreihe zu Methodenfragen, Band
21, 1992 (Metzler/Poeschel)). Die fachlichen Bedenken gegen den
Verzicht auf eine Volkszählung als Primärerhebung überwogen:
Die amtliche Statistik wie auch die öffentliche Verwaltung
in Deutschland sind aufgrund bloßer Bestandsfortschreibung
vieler ihrer Daten auf periodische Inventuren angewiesen.
Deshalb schien die Überlegung zur grundsätzlichen Abkehr
von der Volkszählung als beendet und nur die Frage nach
dem nächsten Zeitpunkt offen.
Nachdem aber die Terminfrage durch Vereinbarungen
in der EU geklärt war und Entscheidungen über die Form
dringlich wurden, hat sich die Bundesregierung im Jahr 1996 gegen
die Volkszählung 2001 als Primärerhebung ausgesprochen.
Dies wurde Fachkreisen außerhalb der Statistischen Ämter
erst im Laufe des Jahres 1997 bekannt.
Als Gründe für die Entscheidung
der Bundesregierung werden Widerstände gegen die Volkszählung
1987 und vor allem der finanzielle Aufwand genannt.
Das finanzielle Argument erstaunt insofern,
als es in Deutschland als einzigem Land der EU den Verzicht auf
die Volkszählung bewirkte. Es ist auch nicht klar, in welcher
Höhe Einsparungen realisiert werden können. Sicher
scheint nur eine Verlagerung von Kosten: Während die Bundeskasse
bei einem Verzicht auf die Volkszählung entlastet wird,
müssen die notwendigen Ersatzmaßnahmen überwiegend
von den Länder- und Gemeindehaushalten getragen werden.
Widerstände gegen die Volkszählung
1987 gab es tatsächlich, und sie wären wegen der besonderen
Sichtbarkeit durch Beteiligung aller Bürger auch künftig
nicht ausgeschlossen. Ein Staat muß jedoch bei der Erfüllung
zentraler Aufgaben seine Bürger (in Grenzen) belasten können
und darf sich nicht von Einwänden jeweils kleiner Minderheiten
blockieren lassen. Andererseits sollte der Umgang mit minderheitlichen
Bedenken, wenn ihre Begründungen anerkannt werden, nicht
durch bloß oberflächliche Berücksichtigung
erfolgen. Mit den notwendigen Ersatzmaßnahmen würden
aber - weniger sichtbar, ohne direkte Beteiligung der Bürger
und ohne ihre relativ leichte Mobilisierung - zumindest ähnliche
Nebenfolgen erzeugt. So wird z.B. in skandinavischen Ländern
und insbesondere in Schweden die Volkszählung durch Registerauswertungen
ersetzt: Diese Register enthalten (deshalb?) Informationen weit
größeren Umfangs als bei uns. Während die Daten
von Volkszählungen unter besonders restriktiven Bedingungen
im geschlossenen Bereich der Statistischen Ämter verbleiben,
stehen die Register im direkten Zugriff der öffentlichen
Verwaltungen. Argumente, wie sie im Rahmen des Widerstands gegen
die Volkszählung 1987 vorgebracht wurden, gelten deshalb
gegenüber solch umfangreichen Registern in weit stärkerem
Maße als gegenüber gelegentlichen Inventuren unter
besonderen Aufsichtsbedingungen.
Ob man nun die Entscheidung der Regierung
für akzeptabel oder inakzeptabel, die Argumente für
richtig oder falsch hält: Die pure Entscheidung bewirkte,
daß nunmehr erhebliche Mittel für die Entwicklung
von Alternativen eingesetzt wurden.
Beide bislang entwickelten Verfahren, kurz
Bundesmodell und Ländermodell genannt,
werden die Daten ganz überwiegend nicht durch Primärerhebungen
ermitteln, sondern vorhandenen Registern entnehmen, die im laufenden
Verwaltungsvollzug erzeugt bzw. fortgeschrieben werden. In beiden
Modellen sind dies für den bevölkerungsstatistischen
Teil des Zensus die Einwohnermelderegister sowie für den
erwerbsstatistischen Teil erstens die Beschäftigten- und
Arbeitslosendatei der Bundesanstalt für Arbeit, zweitens
die Personalstandsstatistiken von Bund und anderen Gebietskörperschaften
(vor allem von Ländern und Gemeinden) und ergänzend
die Dateien über Wehrpflichtige und Zivildienstleistende
des Verteidigungsministeriums bzw. des Bundesamtes für Zivildienst.
Alle weiteren Informationsbedarfe müssen gegebenenfalls
durch Mikrozensus-Erhebungen oder durch zusätzliche Stichproben-
oder Vollerhebungen gedeckt werden.
Die Registerdaten werden nach beiden Modellen
an die Statistischen Ämter übermittelt. Die weitere
Überprüfung, Bereinigung und Verarbeitung der Daten
erfolgt nach beiden Modellen - ebenso wie bei den Daten aus amtlichem
Primärerhebungen - ausschließlich im geschlossenen
Bereich der Statistischen Ämter, damit also auch ohne Rückkopplung
an die öffentlichen Verwaltungen, aus denen die Register
stammen. Unterschiede zwischen beiden Modellen bestehen aber
in der Art und dem Umfang, wie die Daten bereinigt und weiterverarbeitet
werden.
Im Bundesmodell sind keine
zusätzlichen Vollerhebungen vorgesehen. Ergänzungen
des Auswertungsprogramms bleiben hauptsächlich auf den Mikrozensus
verwiesen. Der Kreis verfügbarer Merkmale ist damit sowohl
gegenüber früheren Zensen in der BRD wie auch gegenüber
den gegenwärtig und künftig in anderen Ländern
der EU verfügbaren Merkmalen deutlich beschränkt. So
gibt es z.B. in diesem Zensus keine Daten über Gebäude
und Wohnungen.
Die Bereinigung der Einwohnermeldeamts-Daten
erfolgt - nach ihrer bundesweiten Zusammenführung im Statistischen
Bundesamt - überwiegend durch Feststellung von Doppelnennungen,
die einmal durch Haupt- und Nebenwohnsitze, zum anderen durch
unterlassene Abmeldungen beim Umzug entstehen.
Haushalte werden allein aufgrund der in
den Daten der Einwohnermeldeämter enthaltenen Informationen
gebildet. Das Verfahren wird derzeit erprobt (vgl. Friedrich
von Klitzing: Haushaltsgenerierungsverfahren HHGEN98.., Deutscher
Städtetag, Stand 1.1.1998). Einpersonenhaushalte werden
dabei aber unvermeidlich überschätzt, weil es bei Personen
im gleichen Haus außer bei Namensgleichheit, bei verheirateten
Personen und bei Personen im Eltern-Kind-Verhältnis im Register
keine Hinweise auf die Zugehörigkeit zum gemeinsamen Haushalt
gibt.
Vor allem aber sollen im Bundesmodell die
Daten aus Registern unterschiedlicher Art unverbunden nebeneinander
stehen. Kombinationsauswertungen sind damit auf solche Merkmale
beschränkt, die in den Datensätzen des jeweils gleichen
Registers vorkommen.
Auch das Ländermodell
vollzieht den Methodenwechsel von einer Primärerhebung zu
einen registergestützten Zensus. Gleichzeitig
soll aber sowohl der Kreis der Merkmale über zentrale Bereiche
wie Bevölkerung, Erwerbsbeteiligung und Wohnen wie auch
die Möglichkeit zur Auswertung von Merkmalskombinationen
ohne dramatische Abstriche erhalten bleiben. Als Basis dienen
neben den beim Bundesmodell genannten Registern über Bevölkerung
und Erwerbsbeteiligung zusätzlich eine postalische Gebäude-
und Wohnungszählung (Vollerhebung) sowie eine postalische
Ergänzungserhebung (als 10%-Stichprobe geplant) zur Erwerbsbeteiligung
von Personen wie z.B. Selbständigen, die in keinem der oben
genannten Verwaltungsdatenbestände vorkommen.
Die zusätzliche Vollerhebung der Gebäude
und Wohnungen schließt zunächst eine offenkundige
Lücke des Bundesmodells. Sie soll darüber hinaus im
Ländermodell wichtige Funktionen bei der Datenbereinigung
und der Integration der Datensätze aus unterschiedlichen
Registern erfüllen. Beispielhaft sei der für viele
Ziele der Sozialberichterstattung wichtige Haushaltsbezug der
Personen genannt. Die Verbindung von Gebäude- und Wohnungszählung
mit den Daten der Einwohnermeldeamtsregister liefert gegenüber
den reinen Registerdaten zusätzliche Hinweise auf die Haushaltszuordnung;
außerdem ist eine grobe Fehlschätzung (insbesondere
der Einpersonenhaushalte, s.o.) durch die nun bekannte Zahl der
Wohnungen pro Adresse (Hausnummer) begrenzt.
Für die Bereinigung der Registerdaten
bietet das Ländermodell aufgrund der Zusammenführung
aller Personendaten weitreichende Möglichkeiten. Insbesondere
durch die Verbindung mit den Daten der Gebäude- und Wohnungszählung
gibt es bessere Ansätze, den Umfang lokaler Bevölkerungen
unabhängig von der Qualität der jeweiligen Registerführung
nach einheitlichen Regeln festzustellen.
Der wichtigste Unterschied gegenüber
dem Bundesmodell ist, daß die personenbezogenen Daten aus
den verschiedenen Quellen nach dem Ländermodell zusammengeführt
werden, womit wie bei früheren Volkszählungen die Auswertung
beliebiger Merkmalskombinationen möglich wird.
Insgesamt bietet das Ländermodell
einen interessanten und vielversprechenden Ansatz, der den Informationsbedarf
der Gesellschaft auf neuartige Weise, vermutlich auch unter Einsparung
von Mitteln und bei gleichzeitiger Schonung der Bürger
vor Einzelerhebungen sichern könnte. Die nötige Zusammenführung
der Daten aus unterschiedlichen Quellen würde außerhalb
der öffentlichen Verwaltungen im abgeschlossenen Bereich
der Statistischen Ämter erfolgen und damit individuelle
Rechte auf gleiche Weise wahren, wie es bei herkömmlichen
Volkszählungen mit Primärerhebung geschah.
Fraglich ist jedoch, ob die wachsende Bedeutung
der Register nicht die Tendenz verstärkt, dort immer mehr
Daten über die Bürger anzuhäufen. Diese Gefahr
droht vor allem vom Bundesmodell: Aufgrund mangelnder Verknüpfbarkeit
der Daten aus unterschiedlichen Quellen wird der gesellschaftliche
Informationsbedarf hier auf lange Sicht einen Druck erzeugen,
Merkmale im gleichen Register zu konzentrieren. Bedenklich
erscheint dies vor allem, weil solche Register - anders als die
Daten des herkömmlich erhobenen Zensus und anders als die
nach dem Ländermodell im geschlossenen Bereich der Statistischen
Ämter zusammengeführten Registerdaten - im unmittelbaren
Zugriff der staatlichen Verwaltungen stehen.
Ein Zensus nach dem Bundesmodell würde
die Informationen über zentrale Bereiche der gesellschaftlichen
Entwicklung in einem heute kaum vorstellbaren Umfang vermindern.
Er brächte aufgrund des allzu beschränkten Kreises
an erreichbaren Merkmalen und des Fehlens von Verknüpfungsmöglichkeiten
Deutschland an das informatorische Ende der EU-Staaten.
Auch ein Zensus nach dem Ländermodell
ist insbesondere aufgrund des engen zeitlichen Rahmens für
seine Realisierung nicht unbedenklich: Zentrale Konzepte dieses
Ansatzes wie z.B. zur Bereinigung der Daten und zur Haushaltsgenerierung
können nicht mehr in einem Umfang erprobt werden, wie dies
bei derart wichtigen Instrumenten zur gesellschaftlichen Berichterstattung
eigentlich nötig wäre.
Die wissenschaftlichen Fachdisziplinen
haben diese Entwicklung erst sehr spät bemerkt. In der verbleibenden
Zeit müssen sie in ihren Bereichen die Aufmerksamkeit für
die drohenden Gefahren wecken und auf künftige Informationslücken
hinweisen.
Die Arbeitsgemeinschaft Sozialwissenschaftlicher
Institute e.V. (ASI) hat auf dem gemeinsamen Kongreß der
Deutschen, Österreichischen und Schweizer Gesellschaft für
Soziologie in Freiburg am 17. September 1998 eine ad-hoc-Sitzung
zu diesem Thema veranstaltet.
Auch auf der Statistischen Woche
vom 5.-9. Oktober 1998 in Lübeck, einer gemeinsamen Veranstaltung
der Deutschen Statistischen Gesellschaft und des Verbandes Deutscher
Städtestatistiker, fand am 7. Oktober 1998 eine ganztägige
Veranstaltung zum Zensus 2001 statt.
Korrespondenzanschrift:
Prof. Dr. Wolfgang Sodeur, Arbeitsgemeinschaft
Sozialwissenschaftlicher Institute e.V. (ASI), Lennéstr.
30, 53113 Bonn |